Hilfe aus Berlin an der polnisch-ukrainischen Grenze - "Ich bin so verdammt privilegiert, ich muss da jetzt helfen"
Kleidung, Medikamente, Babynahrung: In der Nacht machen sich sieben junge Berliner:innen mit Hilfsgütern auf den Weg an die polnisch-ukrainische Grenze. Doch so leicht wird der Trip nicht. Und wem kann man eigentlich vertrauen? Von Tim Schwiesau
"Ja, ich weiß jetzt auch nicht, was hier los ist. Wo können wir hin? Wem können wir es geben, damit es sinnvoll genutzt wird?", fragt Julian. Er steht wenige Kilometer von der polnisch-ukrainischen Grenze entfernt und will drei Transporter voller Spenden loswerden. An Bord: Windeln, Dosenessen, Schlafsäcke, Tampons, Kleidung für alle Altersgruppen.
Von der Avus bis 80 Kilometer vor Lwiw ans Kriegsgebiet heran, in der Nacht zu Dienstag geht's für sieben Berliner:innen los: 10 Stunden Fahrt, dann wieder zurück, vielleicht noch ein paar Kriegsflüchtende mitnehmen, am Mittwoch wieder auf Arbeit. Das war der Plan, er sollte nur teilweise aufgehen.
"Das ist doch nicht so weit weg von Berlin"
Einige sind seit Jahren befreundet oder arbeiten zusammen, die Gruppen haben sich am Montag via Instagram gefunden und beschlossen: Wir müssen helfen. "Ich bin so verdammt privilegiert und anderen geht es in Europa gerade so schlecht. Ich muss da jetzt hinfahren", sagt sich Phil, Mitte 20, Berliner, morgens unter der Dusche. Er trommelt Menschen und Material zusammen. "Es ist so unfassbar, dass das passiert. Und dass es doch nicht so weit weg ist von Berlin", sagt Kumpel Julian.
Saskia, auch Mitte 20, rosa gefärbte Haare, Piercing in der Nase, baut gerade ihren Transporter zu einem Reisemobil um und kommt aus Göttingen angefahren. Phil, Martin, Sabina, Mark, Julian und Alex wohnen in Berlin und leihen sich Fahrzeuge. Die meisten Dinge wurden gespendet, einiges haben sie selber besorgt, von den Geldspenden haben sie unter anderem Medikamente gekauft. 30 bis 40 Leute haben bei den Vorbereitungen geholfen.
An der Avus wird der dritte Sprinter befüllt, Abfahrt 22 Uhr. Damit die Hilfsgüter überhaupt in die Transporter passen, kommen Staubsauger zum Einsatz: Alles wird in durchsichtigen Plastikbeuteln vakuumiert, beschriftet und sortiert, dann in die Autos gestapelt und gequetscht. Auf der langen Fahrt sind sie nicht allein - ihre Reise posten sie fleißig auf Instagram.
Gegen 10 Uhr sind die Helfer:innen an der Grenze bei Przemysl, am größten Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine.
Das große Hin und Her beginnt: Verschiedene Kontakte aus Berlin und hier vor Ort lotsen sie immer wieder an neue Orte, wo die Sachen vielleicht übergeben werden können. Erst in die Innenstadt, dann etwas außerhalb. Dann werden sie 40 Minuten weiter nördlich geschickt, kurz vor den Grenzübergang bei Korczowa. Dann direkt neben die Grenze, dann wieder zurück. Dort ist ein kleiner Industriepark, wo die Kriegsflüchtlinge gesammelt und dann auf Busse verteilt werden. Zwei Stunden lang passiert hier fast nichts. Ein gebürtiger Pole, der in Augsburg wohnt, empfiehlt die Feuerwehr. "Ja, das klingt doch seriös." Das zerschlägt sich aber schnell.
Ein Hin- und Her im Grenzgebiet
Sie wollen die Sachen nicht irgendwem geben, vor allem die teuren Medikamente nicht. "Wir kriegen das Zeug gerade schlecht über die Grenze", sagt Martin. "Ist gerade schwierig. Wir wollen ja das ganze Zeug loswerden und nicht nur Einzelteile." Mitte-Ende 20, kurze helle Haare, Drei-Tage-Bart, trotz Müdigkeit hat er immer ein Lächeln im Gesicht.
Die Spenden sollen zu den Menschen in die Ukraine und nicht hier abgelegt und dem Zufall überlassen werden. Sie stehen rum, reden, rauchen, rasten – bis die gebürtige Ukrainerin Natalie wie aus dem Nichts auftaucht und das Heft in die Hand nimmt. "Wer ist die Frau?" - "Die ist wahrscheinlich Supervisorin hier, weiß ich nicht genau. Die hat sich jedenfalls so auserkoren. Die klärt jetzt ein paar Sachen."
Natalie, um die 1,60 groß, hellblonde Haare bis zur Brust, ist eigentlich Lehrerin für Englisch und Polnisch. Doch statt Achtjährige zu unterrichten, dirigiert sie jetzt Busse und Spenden bei Krakowecz.
Ukrainische Fahrer holen die Hilfsgüter an der Grenze ab
Andauernd klingelt ihr Telefon. In resolutem Ton spricht sie auf ihre Gesprächspartner ein. Die Gruppe wirkt müde und ungeduldig, seit zwei Stunden stehen sie hier. Die Sieben setzen jetzt alle Hoffnungen in Natalie, die offenbar alle Kontakte aktiviert, um die Sachen über die Grenze zu kriegen. Dann geht’s eilig los, wieder an die Grenze. "Ey, hier waren wir doch heute schon mal." Dort sollen Ukrainer mit Transportern ankommen, in die die Ware aus Deutschland verfrachtet werden kann. In einer Stunde vielleicht. Wer weiß das heute schon?
Nach zwei Minuten: Doch nicht, wieder an einen anderen Ort - zu einem Restaurant, 500 Meter von der Ukraine entfernt. Die müden Gesichter nutzen die Zeit für Kaffee, Cola, Pilz- und Gulaschsuppe. Doch die Euphorie, dass sie hier helfen und etwas bewirken können, treibt sie an.
Transporter mit ukrainischem Kennzeichen rollen über den löchrig-matschigen Parkplatz. Männer mit fröhlichen Gesichtern steigen aus. Lehrerin Natalie lässt sich Papiere von der ukrainischen Regierung zeigen, die bezeugen sollen, dass die Sachen tatsächlich in die Ukraine gehen. Nach 10 Minuten Prüfung gibt sie ihr "Go". Nach zehn Stunden Fahrt und fünf Stunden Warten geht das Umladen los. Essen und Kleidung für Männer und Front in Transporter 1, Kindersachen und Hygieneartikel für Frauen, viele Windeln in 2 und 3. Nach 20 Minuten ist alles vorbei.
Und, wie geht’s? "Gut. Es ist ein toller Erfolg. Ich glaube, sie bringen es auch dahin, wo wir es hin haben möchten – nämlich zu den Leuten", hofft Phil. Klamotten für die Armee, war das der Plan? "Wir haben alles eingesammelt, was die Leute zu Hause hatten, überwiegend Babyklamotten und Nahrung. Viele Jacken und sowas. Das wird wahrscheinlich dann auch für die Reservist:innen verwendet." Saskia: "Wir können ja nicht bestimmen, was mit den Sachen passiert. Jeder Mensch braucht Kleidung."
Sabina, große Brille und den ganzen Tag mit lavendelfarbener Wollmütze unterwegs, bilanziert: "Ich bin sehr happy. Ich komme vom Balkan und weiß, was Krieg und Flucht bedeuten. Deswegen berührt mich das nochmal mehr. Ich konnte nicht ruhig sitzen und wenn man was bewegen kann, ist man einfach nur glücklich."
Nachts um 3 Uhr zurück in Berlin, morgens zur Arbeit
Nach Schulterklopfen, Abklatschen mit Natalie, den Fahrern aus der Ukraine und einem Gruppenfoto geht es zurück. Fast. Auf Instagram postet die Gruppe noch Bilder von einem anderen Grenzübergang, wo Stände mit Spenden aufgebaut sind. Und dass sie niemanden mehr mitgenommen haben. Gegen 3 Uhr in der Nacht zu Mittwoch sind sie wieder in Berlin.
Um 9:30 Uhr sitzt Martin wieder am Arbeitsplatz einer Immobilienplattform. Sein Freund Phil, der die Idee unter der Dusche hatte, hat heute frei.
Sendung: Abendschau, 02.03.2022, 19.30 Uhr