Alternative zu russischen Nationalfarben - Eine Flagge ohne Blut

Sa 09.04.22 | 17:28 Uhr | Von Varja Bluhm
Menschen demonstrieren mit <<Alternativen Flagge für Russland>> vor der russischen Botschaft in Berlin. (Quelle: Varja Bluhm)
Audio: rbb Kultur | 09.04.2022 | Varja Bluhm | Bild: Varja Bluhm

Russische Menschen, die gegen den Krieg sind, brauchen ein Symbol, um sich sichtbar zu machen, findet die Designerin Kai Katonina. Sie entwirft eine Alternative zur russischen Flagge - und rechnet mit harten Konsequenzen. Von Varja Bluhm

Weiß-blau-weiß. Solche Fahnen sind immer öfter neben den blau-gelben ukrainischen Flaggen bei den Protesten gegen den russischen Überfall auf dessen Nachbarland zu sehen. Die weiß-blau-weißen Fahnen erinnern an die offizielle russische, nur ohne den unteren roten Streifen. Denn diese Fahne soll eine alternative Flagge für Menschen aus Russland sein, die mit dem Krieg und Putins Russland nicht einverstanden sind. Entwickelt wurde diese neue, nicht offizielle Fahne in Berlin.

"Unter offizieller russischer Fahne ist kein Protest möglich"

Kai Katonina hat azurblaue kurze Haare. Die Farbe ähnelt dem himmelblauen Ton, der zwischen den zwei weißen Streifen auf der alternativen Fahne Russlands zu sehen ist, die sie entworfen hat. "Das war nötig, weil die alte Fahne vereinnahmt ist von den Putinisten, die man wohl inzwischen auch Faschisten nennen kann. So eine Fahne können wir nicht zu Protesten mitnehmen." Aber russische Menschen, die gegen den Krieg sind, brauchten ein Symbol, um sich sichtbar zu machen.

Himmel und Schnee statt Blut

Kai Katonina stammt aus Moskau und arbeitet seit einigen Jahren in Berlin im Bereich Design. Am 28. Februar, nur vier Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, erschien auf ihrer Facebook-Seite ein Post: "Ich schlage eine russische Protestflagge vor – weiß-blau-weiß". Es sollte eine Flagge ohne den roten Streifen sein, den viele inzwischen mit Blut assoziieren, das Russland in der Ukraine vergießt.

Die alternative Flagge erinnert stattdessen an die weiß-rot-weiße Protestflagge von Belarus. Aber auch an den endlosen Himmel und den weißen Schnee Russlands, zwei Dinge, die so viele russische Menschen im Exil vermissen. Und – diese Flagge gibt es noch nicht auf der Weltkarte. "Es hilft uns, einander zu identifizieren und auch anderen zu zeigen, dass es Russen gibt, die gegen den Krieg sind, und es gibt viele von uns," sagt Kai Katonina.

Vorbilder aus dem russischen Mittelalter

Eine historische Begründung hätte die weiß-blau-weiße Fahne auch. Anfang des 12. Jahrhunderts existierte in der Stadt Nowgorod im Norden Russlands, dem Zentrum der sogenannten Nowgoroder Rus, eine Art Volksversammlung, die die politischen Geschicke leitete und für die damalige Zeit als fast demokratisch angesehen werden könnte, sodass man bis heute von der Nowgoroder Republik spricht. Ein würdiger Vorläufer also für ein alternatives Russland.

Die Idee zur Wiederbelebung der weiß-blau-weißen Fahne hatte nicht nur Kai Katonina. An vielen Orten der Welt gab es ähnliche Geistesblitze. Auch in Russland, von einem Artmanager mit dem Nicknamen Zvuki Ryb. "Die Fahne wurde sozusagen kollektiv erfunden. Es gibt allerdings verschiedene Varianten der blauen Farbe", sagt Katonina, "aber wir haben alle entschieden, dass das im Moment nicht so wichtig ist. Viele werden sie selber nähen oder basteln oder zeichnen. Es ist einfach nicht wichtig, welche genaue Farbe es ist, Hauptsache, es ist klar, dass es eine weiß-blau-weiß Fahne ist."

"Alle wollen Russen sehen, die gegen den Krieg sind"

Die Idee der neuen Fahne wurde sofort von den Menschen, die gegen den Krieg protestieren, aufgegriffen: auf Demos in London, Prag und Tbilissi wurden die weiß-blauen Fahnen geschwenkt. "Viele fragen, was für eine Fahne es ist und ich erkläre, dass es die Fahne des russischen Widerstands ist und die Menschen freuen sich", sagt Katonina. Denn jeder wolle die Russen sehen, die gegen den Krieg sind. "Und auch die Russen, die gegen den Krieg sind, wollen andere Russen gegen den Krieg wahrnehmen", ergänzt sie.

"Feind des Staates" und stolz drauf

Allerdings ist Kai Katonina bewusst, dass im heutigen Russland die neue Fahne ganz anders gesehen wird. Zwar steht ihr Name noch nicht auf der Liste der Feinde Russlands. "Aber es ist eine offene Information, dass ich und andere die Fahne erfunden haben und es gibt schon einen Vorschlag, diese Flagge in Russland als extremistisch zu deklarieren. Ich glaube, es wird so kommen."

Denn inzwischen werden die weiß-blau-weißen Aufnäher auch in der Ukraine von russischen Soldaten benutzt, die nicht auf der Seite des Aggressors kämpfen wollen. "Wenn ich nun als Erfinder der Fahne gelte, mit der Leute wirklich gegen Russland kämpfen, dann bin ich definitiv ein Feind des Staates. Und ich bin stolz darauf, dass ich Feind von so einem Staat bin", sagt Kai Katonina.

Sendung: rbb Kultur, 07.04.2022, 16:00 Uhr

Beitrag von Varja Bluhm

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