Zuständigkeit wechselt von Bezirken zum Bund - Jobcenter werden neue Anlaufstelle für ukrainische Geflüchtete
Geflüchtete aus der Ukraine müssen ab Mittwoch zum Jobcenter, um Hilfsleistungen zu bekommen. Die Mitarbeiter der bisher zuständigen Sozialämter atmen auf. Aber profitieren die Geflüchteten? Oder stehen sie jetzt nur woanders Schlange? Von Sabrina Wendling
Was bedeutet "alleinerziehend"? Was ist "Vermögen"? Es ist so schon nicht immer einfach, sich im Behördendeutsch der Anträge zurechtzufinden. Für Geflüchtete aus der Ukraine ist es ungemein schwerer. "Da gab es viel Beratungsbedarf, und wir haben sehr viel erklärt", sagt Elena Zavlaris, die Geschäftsführerin der Jobcenter in Tempelhof-Schöneberg. "Zum Beispiel, dass auch solche Frauen nach deutschem Recht als alleinerziehend gelten, deren Männer in der Ukraine sind – und damit haben sie eben Anspruch auf Unterstützungsleistungen für Alleinerziehende", sagt Zavlaris.
Im Mai wurden ukrainische Geflüchtete in Tempelhof-Schöneberg bereits zu Gruppen-Informationsveranstaltungen in den Jobcentern eingeladen. Dort haben sie dann mit Unterstützung von Sprachmittlern Anträge ausgefüllt. Seit Anfang Mai tauschen sich Jobcenter und Sozialämter aus, um das große Chaos ab dem 1. Juni zu vermeiden – wenn die Jobcenter zur neuen Anlaufstelle für ukrainische Geflüchtete werden.
Sozialämter von Antragsflut überfordert
Für das Land Berlin ist die Zuständigkeit der Jobcenter ein politischer Erfolg. Denn kaum waren Ende Februar, Anfang März die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine in Berlin angekommen, da wurde Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) nicht müde bei jeder Gelegenheit zu wiederholen, der Bund möge sich bitte für finanzielle Hilfen an die Geflüchteten zuständig fühlen. Die Auszahlung von Leistungen dürfe nicht den Sozialämtern, also den Bezirken, überlassen werden.
Das hatte zum einen finanzielle Gründe: Wenn die Geflüchteten Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch haben, dann trägt der Bund die Kosten – was dem Land natürlich nur recht sein kann. Zum anderen war aber auch erwartbar, dass Berlins ohnehin stark geforderte Sozialämter durch Tausende neue Antragsteller massiv überfordert würden.
Giffey: Wechsel auf Jobcenter ein "Quantensprung"
Der Ruf aus Berlin nach Zuständigkeit der Jobcenter blieb über viele Wochen und Ministerpräsidentenkonferenzen ungehört. Der Haushalt des Bundes war auch so schon überstrapaziert, die Bundesregierung ließ sich mehrfach bitten. Und so warteten vor den Sozialämtern, etwa in Reinickendorf und Neukölln, täglich Dutzende bis Hunderte Geflüchtete, um sich für Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz zu registrieren. Die dort zuständigen Sozialstadträte von der CDU wurden nicht müde, immer wieder mehr Unterstützung vom Senat einzufordern. Dieser zeigte weiter mit dem Finger auf den Bund – bis man sich schließlich bei der Ministerpräsidentenkonferenz am 9. April darauf einigte, dass ab Juni die Jobcenter übernehmen sollen.
Die Berliner Regierende Franziska Giffey (SPD) will das nicht nur als Entlastung des Berliner Haushalts verstanden wissen. "Aus integrationspolitischer Sicht ist dieser Rechtskreiswechsel ein Quantensprung", sagt die Regierende Bürgermeisterin auf Nachfrage des rbb. "Die Menschen, die in Grundsicherung kommen, werden einen Zugang haben zu Sprachbildung, zum Gesundheitssystem und zu Integrationskursen. Und der Zugang zu Arbeit, Ausbildung und gesellschaftlicher Teilhabe ist Gelingensbedingung für eine erfolgreiche Integration", so Giffey.
Jobcenter rechnen nicht mit langen Schlangen
Dass Geflüchtete aus der Ukraine nun die Jobcenter als Anlaufstelle haben, bedeutet konkret: Sie können künftig Arbeitslosengeld II bekommen, also Hartz IV – oder eben Sozialhilfe. Das hat erst mal den Vorteil, dass sie mehr Geld bekommen als nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, bei dem die Sätze niedriger sind. Sie bekommen mit dem Anspruch aufs Arbeitslosengeld auch teilweise die Kosten für Unterkunft und Heizung erstattet. Außerdem können sie Kindergeld beantragen.
Aus Sicht der Jobcenter eine deutliche Verbesserung. "Wir haben jetzt die Möglichkeit, unter einem Dach und aus einer Hand nicht nur Leistungen zum Lebensunterhalt zu gewähren, sondern auch gleich in das Thema reinzugehen: Wie können wir unterstützen und die Integration in den Arbeitsmarkt organisieren?", sagt Ramona Schröder. Sie ist bei der Bundesagentur für Arbeit die Vorsitzende der Geschäftsführung für die Regionaldirektorin Berlin-Brandenburg. "Bisher waren zwei Behörden zuständig, jetzt ist es nur noch eine – das geht schneller."
Mit langen Schlangen rechnet Ramona Schröder nicht. "Wir sind seit Anfang Mai in der Vorbereitung und in einem sehr engen Austausch mit den Sozialämtern. Alle zwölf Jobcenter in Berlin und auch im Land Brandenburg haben sich gut vorbereitet, die personellen Ressourcen stehen – also alles spricht dafür, dass wir gut vorbereitet sind." Ähnlich sieht man es bei den Jobcentern in Potsdam. "Es ist schon eine Herausforderung", sagt der Geschäftsführer der Potsdamer Jobcenter, Thomas Brincker, "aber wir haben in der Corona-Krise auch einen enormen Zugang gehabt, sodass meine Beschäftigten so eine Situation gewöhnt sind. Wir sind außerdem personell gut aufgestellt und haben das Verfahren entsprechend organisiert."
Ehrenamtliche Flüchtlingshelfer: riesiger Informationsbedarf
In Berlin rechnen die Jobcenter mit 35.000 Geflüchteten aus der Ukraine, die antragsberechtigt sind. In Brandenburg sind es der Regionaldirektion zufolge etwa 20.000 Menschen. Denn so viele sind in beiden Bundesländern bereits registriert und haben eine sogenannte Fiktionsbescheinigung – also den Nachweis über ihr vorläufiges Aufenthaltsrecht.
Das sind die Voraussetzungen, um direkt ab 1. Juni im Jobcenter betreut zu werden. "Das bedeutet aber nicht, dass diese 35.000 Geflüchteten in Berlin alle persönlich einen Antrag stellen werden. Es sind ja auch Kinder darunter und Familien, daher rechnen wir ungefähr mit der Hälfte an Anträgen", sagt Ramona Schröder dem rbb.
Doch was nach einer guten Nachricht klingt, sieht man im Flüchtlingshilfe-Verein "Moabit hilft" kritisch. Denn aus ihrer Sicht gibt es viel zu wenig Informationen für Geflüchtete, was dieser Wechsel vom Sozialamt in die Jobcenter für sie bedeutet und wie sie all die Anträge beim Jobcenter ausfüllen müssen. "Wir brauchen jetzt eine große Informationskampagne, die Geflüchteten brauchen mehr Informationen", beklagt Geschäftsführerin Diana Henniges. "Im Grunde müsste man 20 Jahre Digitalisierung aufholen, ich verstehe nicht, warum man stapelweise Papier druckt, statt die Menschen über Instagram oder Telegram zu informieren."
"Moabit Hilft": Politik hat nichts dazugelernt
Die Haupt- und Ehrenamtlichen von "Moabit hilft" unterstützen die Geflüchteten dabei, Anträge zu verstehen und auszufüllen. Das kann manchmal ein bis zwei Tage dauern, so Henniges. "Wir können das Rudimentärste machen, aber das ist eigentlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und daraus ergibt sich auch, dass es eine politische Verantwortung geben muss", sagt Henniges. Die Politik aber wate im selben Wasser wie vor zehn Jahren.
Dem widerspricht die Regierende Bürgermeisterin. Die Politik habe sehr wohl aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Zusammen mit Integrationssenatorin Kipping informiere sie in diesen Tagen Bezirksstadträte und Bezirksbürgermeister, um zu besprechen, welche Hilfen bei der Umstellung noch benötigt würden. "Es geht jetzt um ganz viel Abstimmung und Beratung für diejenigen, die betroffen sind. Da versuchen wir mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten und auch mehrsprachige Informationen bereitzustellen und an die Menschen ranzubringen", sagt Giffey.
Ob das funktioniert und die Geflüchteten aus der Ukraine wissen was zu tun ist – oder, wie Ehrenamtliche befürchten, eher völlig überfordert sind, wird sich in den nächsten Wochen zeigen.