Interview | Psychotherapeutin zur Angst vor dem Krieg - "Wir sind durchaus nicht hilflos"

Di 01.03.22 | 15:13 Uhr
Menschen kommen am 27.02.2022 zu einer Großdemonstration gegen den Ukrainekrieg in Berlin zusammen. (Quelle: dpa/Simon Becker)
Video: rbb|24 | 01.03.2022 | Material: rbb|24, Abendschau | Bild: dpa/Simon Becker

Vielen macht der Krieg in der Ukraine Angst. Bei manchen besteht sogar die Gefahr, dass alte Traumata getriggert werden. Die Berliner Psychotherapeutin Ingrid Meyer-Legrand erklärt im Interview, was gegen die Angst hilft.

rbb|24: Frau Meyer-Legrand, am Wochenende haben in Berlin und anderswo in Deutschland sehr viele Menschen gegen den Krieg in der Ukraine demonstriert. Da geht es um Solidarität mit den Menschen dort. Aber eventuell ja auch um eigene Ängste, die gerade hochkommen. Kann das sein?

Ingrid Meyer-Legrand: Ja, das ist auf jeden Fall eine Situation, in der Ängste hochkommen oder ganz alte Ängste aktualisiert werden. Es gibt in unserer Gesellschaft ja noch die Kriegskinder-Generation. Das sind die Jahrgänge von 1928 bis 1946. Sie haben den Krieg als Kinder erlebt. Diese Menschen erzählen mir das jetzt auch: dass sie nachts nicht mehr schlafen können und dass sie beginnen, Hamsterkäufe zu tätigen. Aber nicht nur diese Generation wird mit Angst überflutet, sondern auch die Nachfolge-Generationen. Also wir. Viele von uns sind mit Leitsätzen aufgewachsen wie dem, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren kann. Und jetzt passiert etwas ganz Schlimmes – und zwar vor der Haustür.

Zur Person

Ingrid Meyer-Legrand (Quelle: privat)
privat

Psychotherapeutin - Ingrid Meyer-Legrand

Ingrid Meyer-Legrand ist Systemische Psychotherapeutin in Berlin und Brüssel sowie Autorin. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Kriegsenkel-Thematik. Ihr neues Buch "Kriegsenkel: Endlich angekommen" erscheint im April 2022.

Hat also die ganz junge Generation da jetzt Vorteile, weil sie keine alten Ängste hat?

Auch die ganz junge Generation ist mit Menschen groß geworden, die derartige Leitsätze im biographischen Gepäck haben. Was für junge Menschen ein noch größerer Schock sein dürfte als für die älteren, ist, dass jetzt rohe Gewalt angewandt wird. Denn die junge Generation hat nicht nur im Elternhaus, sondern auch in der Schule gelernt, sich anders auseinanderzusetzen. Wir sollten aber nicht nur über die Angst sprechen.

Sondern worüber?

Die Angst und der Schock sind nur eine Seite der Medaille. Wir haben in der letzten Zeit nämlich auch gesehen, wie groß die Solidaritätsaktionen sind. Es wird demonstriert und es laufen Spendenaktionen in großem Umfang. Das zeigt: wir sind durchaus nicht hilflos.

Es ist angstmindernd sich zu fragen, wo man wirksam werden kann. Man muss immer wieder an die Selbstwirksamkeit anknüpfen. Angst ist kein schlechter Ratgeber, wenn man sie als Leibwächter betrachtet. Sie will uns schützen. Wir müssen uns also, wenn wir der Angst zuhören fragen, wie wir uns schützen können und was uns Sicherheit bringt. Man muss mit der Angst in den inneren Dialog gehen und herausfinden, was man braucht, um wieder zuversichtlich zu werden.

Wie findet denn jeder für sich heraus, was ihm hilft?

Wie schon gesagt, der Fokus sollte nicht allein bei der Angst gelassen werden. Man muss sich fragen, was man braucht und wie man diese Situation herstellen kann. Das ist der eine Fokus. Der andere ist: Man sollte nicht permanent schlechte Nachrichten konsumieren. Wer sich einfach mit Nachrichten berieseln lässt, fühlt sich unter Umständen unglaublich ohnmächtig. Und wer sich ohnmächtig fühlt, ist fern von jeglicher Selbstwirksamkeit. Was auch hilft, sind Gespräche. Meine Devise ist ohnehin, dass man sich zusammentun sollte. Wir sind Beziehungswesen.

Dort, wo die Angst am größten ist, ist auch die Isolation meist am größten. Das kann man bei der Kriegskindergeneration zu sehen, die heute in einem sehr hohen Alter ist. Sie leben meist gerade mal zu zweit. Viele leben auch völlig alleine. Es kann einem alleine schon angst machen, wenn man nicht weiß, ob da jemand ist, wenn einem etwas passiert.

Angst ist kein schlechter Ratgeber, wenn man sie als Leibwächter betrachtet. Sie will uns schützen.

Ingrid Meyer-Legrand

Ist es, wenn die Angst – beispielsweise vor dem Einsatz nuklearer Waffen – übermächtig wird, für manche Menschen besser wegzugehen?

Da geht es ja um Umstände, die einzelne Menschen kaum verändern können. Man sollte sich auch in dem Fall auf die Bereiche fokussieren, die man tatsächlich selbst beeinflussen kann.

Doch wenn es für den einen oder anderen da die Möglichkeit gibt, zu gehen, kann auch das eine Lösung sein. Wo auch immer er oder sie sich sicher fühlt – das ist ja die Frage, die wir uns derzeit alle in Europa stellen. Doch der Fokus sollte meines Erachtens eher darauf liegen, sich zu fragen, was man in seinem Einflussbereich selbst bewirken kann.

Wir haben schon darüber gesprochen, dass die derzeitige Situation vielen Menschen in Deutschland Angst macht. Was ist mit Menschen aus beispielsweise Syrien und Afghanistan, die hier leben? Sie sind vor Krieg und Gewalt hierher geflüchtet. Und jetzt das. Besteht auch für sie die Gefahr einer Retraumatisierung?

Ja. Viele der Geflüchteten kennen das, was sie jetzt über den Krieg sehen und hören, hautnah. Das ist ja auch der Grund, warum ich die Kriegskindergeneration ansprach: Die kennen das auch. Für beide Gruppen gilt: Je mehr sie isoliert leben, desto mehr können alte Traumata aktualisiert werden. Auch die geflüchteten Menschen sollten sich zusammentun und Schutz in der Gemeinschaft suchen. Sie sollten über die Situaton sprechen.

Das ist auch für die Menschen, die im Frieden aufgewachsen sind, eine ganz große Möglichkeit. Man kann sich mit denjenigen, die die anderen Erfahrungen haben, verbünden. Man kann sie fragen – denn sie wissen, was es heißt zu überleben.

Wie merkt man, dass die Angst zu groß wird und man Hilfe braucht?

Man kann nachts nicht mehr schlafen, bekommt Herzrasen oder merkt, dass man den Alltag nicht mehr auf die Reihe kriegt.

Was sollten Menschen tun, denen es so geht? Einen Therapieplatz zu finden in kurzer Zeit scheint utopisch. Wäre es auch für sie wichtig, sich mit anderen zusammenzutun?

Ja, unbedingt. Aber wir können auch auf die vergangenen zwei Pandemie-Jahre schauen. Auch hier haben wir schon einen Umgang mit Isolation gefunden. Es ist aber auch gerade vor dem Hintergrund dieser zwei Jahre die Erschöpfung der Menschen sehr groß. Der Krieg vor unserer Haustür kommt da noch obendrauf. Doch wir können darauf schauen, wie wir uns mit dieser anderen Krise auseinandergesetzt haben. Eine meiner Patientinnen hat erzählt, dass sie sich immer an einem bestimmten Abend auf der Straße mit anderen getroffen und gesungen hat. Da haben sie etwas für sich als Gemeinschaft gemacht und auch für alle anderen in den Wohnbezirken, die es gehört haben.

"Stand with Ukraine"

Das heißt, wir sind durch die vergangenen Jahre nicht nur gnadenlos erschöpft, sondern wir haben vermutlich sogar neue Ressourcen?

Ja, das würde ich sagen. Und da gilt es hinzuschauen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Priess.

Sendung: rbb Praxis, 02.03.2022, 20.15 Uhr

Nächster Artikel