Ausgelastete Sammelunterkünfte - Immer mehr Ukraine-Flüchtlinge suchen eigene Wohnungen in Berlin

Do 10.11.22 | 06:04 Uhr | Von Wolf Siebert
Die Berliner Gastfamilie Voigt mit ihren neuen Mitbewohnern, den Geflüchteten Frauen aus der Ukraine (Quelle: rbb/Wolf Siebert)
Bild: rbb/Wolf Siebert

Rund 100.000 Menschen sind aus der Ukraine nach Berlin geflohen, viele von ihnen sind bei Bekannten oder Gastfamilien untergekommen - so auch drei junge Frauen aus Charkiw. Sie suchen seit Monaten eine Wohnung. Von Wolf Siebert

Eine ruhige Straße mit Kopfsteinpflaster in Berlin-Lichtenrade. Gastmutter Marie Voigt begrüßt am Eingang ihres rund neunzig Jahre alten Hauses. Hündin Bella springt im Garten herum. Seit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine haben Marie und ihr Mann Daniel das Haus zu einem improvisierten Hostel für Flüchtlinge gemacht. Den Anstoß gab auch ihr kleiner Sohn: "Er war damals fünf Jahre alt und sagte: 'Wir haben doch noch Stühle am Tisch frei, die Leute, die keine Wohnung haben, können doch bei uns wohnen.'"

Im ersten Monat nahmen die Voigts sechs Familien auf; seit Ende März wohnen nun drei junge ukrainische Frauen aus Charkiw hier. Plötzlich stehen sie im Wohnzimmer: Anna Bombir (21) will Flugbegleiterin werden. Kateryna Hurina (21) ist angehende Grafikdesignerin. Sie hat in den letzten Monaten ihr Onlinestudium abgeschlossen. Und Kateryna Zhadan. Sie war noch minderjährig, als die drei Frauen nach dreitägiger Flucht in Berlin ankamen. Sie will Projektmanagement studieren.

Wohnraum für Geflüchtete gesucht – nicht nur für Ukrainer

Wie viele Geflüchtete aus der Ukraine tatsächlich in Berlin leben, weiß niemand. Ukrainer können momentan ohne Visum einreisen und sich so bis zu 90 Tage im Schengenraum aufhalten. Offiziell registriert sind rund 85.000 Menschen. Nur rund 3.000 leben in Unterkünften des "Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten" (LaF). Die meisten Ukraine-Geflüchteten wohnen also bei Freunden, Verwandten oder bei Gastfamilien, viele schon seit Monaten.

Nach LaF-Angaben fragen inzwischen aber viele Ukrainerinnen beim Amt an, ob sie nicht eine eigenen Wohnung oder einen Platz in einer Sammelunterkunft bekommen können. Da dort auch Geflüchtete aus anderen Ländern untergebracht sind, sind die rund 28.000 Plätze so gut wie vergeben. Mitte dieser Woche gab es noch 124 freie Plätze.

Die selben Dokumente, aber unterschiedlich behandelt

Hier in Lichtenrade haben es die drei geflüchteten Frauen gut angetroffen: Das Zimmer ist zwar klein, aber sie haben ein eigenes Bad und vor allem eine Gastfamilie, die sie wie "Familie" behandelt, sie im Umgang mit Behörden unterstützt und mit ihnen Ausflüge macht. Kateryna Hurina erinnert sich an einen besonderen Tag, den 10. April. Erst der Anruf der Eltern: Die Wohnung in Charkiw sei gerade zerbombt worden. Abends holten ihre Berliner Gasteltern dann die Party nach, die Kateryna zu Beginn des Kriegs in der Ukraine nicht hatte feiern können: "Das hat mir gezeigt, was 'Leben' bedeutet: Morgens bombardieren russische Soldaten dein Elternhaus, und abends feiern deine wunderbaren Gasteltern in Berlin mit dir deinen Geburtstag."

Schwierig ist es mit der deutschen Bürokratie: Sozialamt, Jobcenter – vieles dauerte da unerklärlich lange. Die eine wartete monatelang auf den Sprachkurs, die andere hat noch immer kein Geld vom Job-Center. Gastvater Daniel, der aus Brasilien kommt, wünscht sich auch klarere Regeln: "Die drei Mädchen hatten dieselben Dokumente und wurden doch unterschiedlich behandelt – warum?"

Sprechen Sie Deutsch?

Das größte Problem ist aber die Wohnungssuche: 160 Bewerbungen haben die drei Frauen geschrieben, siebenmal haben sie eine Wohnung besichtigt. Zusammen mit vielen anderen Wohnungssuchenden. Erfolglos. Anna glaubt, dass das nicht nur am Wohnungsmangel liegt: "Ich habe den Eindruck, dass Vermieter keine Menschen haben wollen, die kein Deutsch sprechen."

Mit ihrer Kritik wollen sie nicht undankbar rüberkommen. Immer wieder erwähnen sie die Hilfsbereitschaft vieler Menschen, die ihnen das Ankommen erleichtert hat. Aber die Bürokratie, das viele Papier. Kateryna Hurina zieht ihr Handy, öffnet eine ukrainische App und wischt mehrmals zur Seite: Ausweis, Studentenkarte, Impfnachweis, Führerschein. So ginge das auch.

Zurückkehren? Bleiben?

Während des Gesprächs im friedlichen Berlin-Lichtenrade wird viel gelacht. Dennoch ist die Zerrissenheit der drei Frauen spürbar. Im Kopf und im Herzen sind sie täglich zuhause in Charkiw, wo das Leben ihrer Familien schwierig ist, sagt Anna: "Wo sie wohnen gibt es kein Wasser, keinen Strom und keine Heizung, und es ist super gefährlich dort."

Die drei Frauen haben einen großen Wunsch: "Als erstes wünschen wir uns, dass dieser Scheiße-Krieg aufhört, das sage ich auf Deutsch." Kateryna Zhadan, die Jüngste, vermisst ihre Familie und ihren Freund. Sie will so bald wie möglich zurück und in Kiew studieren. Solange das dort noch geht.

Sendung: rbb24 Abendschau, 09.11.2022, 19:30 Uhr

 

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Beitrag von Wolf Siebert

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