Tiktok-Posts aus der Ukraine - "Da prasselt der Krieg ins Kinderzimmer"

Mi 09.03.22 | 17:23 Uhr | Von Anna Bordel
Symbolbild: Ein Kind nimmt ein TikTok-Video auf. (Quelle: dpa)
Video: Kowalski | 22.03.2022 | Bild: dpa

Tiktok ist für viele Kinder und Jugendliche eine wichtige Informationsquelle. Szenen vom Krieg in der Ukraine können sie dort ungefiltert miterleben. Faktenchecks mit den Eltern und Kanäle verantwortungsvoller Medien helfen weiter. Von Anna Bordel

Sie tanzt ein bisschen, föhnt sich die Haare, isst Pfannkuchen zum Frühstück, die ihre Mutter gebacken hat - alles in einem Bunker in der ukrainischen Stadt Chernihiv. Danach filmt sie zerstörte Häuser und wie sie selbst ein paar Dinge wie Teller in einer Tasche in ihr derzeitiges Zuhause unter Tage trägt.

Valerissh hat mittlerweile eine halbe Millionen Follower auf Tiktok, der beschriebene Clip hat vier Millionen Likes. Auf ihrem Account zeigt sie viele Schnipsel aus ihrem derzeitigen Bunker-Alltag und das mit viel Humor: Sie filmt ihren Vater, wie er am Frauentag Rosen kauft. Im Bunker verkleidet sie ihren Pinscher in Herrenklamotten und unterlegt einen Clip, in dem sie Nudeln isst mit italienischer Folkloremusik.

Medienpädagogin: "Tiktok eignet sich wunderbar um Menschen zu beeinflussen"

In vielen Posts auf Tiktok sind nicht nur die Folgen des Krieges in der Ukraine an den Häusern und der Bunker-Alltag zu sehen. Schießszenen aus Schützengräben, Straßengefechte, bei denen Menschen ums Leben kommen oder schwer verletzt werden, Soldat:innen die mit Fallschirmen aus Flugzeugen springen und dabei abgeschossen werden. Kriegsszenen also, wie Jugendliche sie bis jetzt aus Kriegsfilmen, historischen Dokus oder Computerspielen kennen dürften.

Bei Tiktok müssen sie annehmen, dass sich diese Szenen zwei Länder weiter in Europa abspielen, und sie sehen, dass Jugendliche wie Valerissh, die ähnlich alt sind wie sie selbst diese miterleben. "Der Krieg in der Ukraine wird auch in den Medien geführt, Tiktok eignet sich wunderbar dafür, Menschen zu beeinflussen", sagt Kerstin Heinemann vom Institut für Medienpädagogik. Den Videoschnipseln fehlen einordnende Stimmen, es gebe keinerlei Kontext für den Inhalt.

Wildes Themen-Durcheinander auf Tiktok

In Deutschland nutzen laut Konzernangaben etwas mehr als 10 Millionen Menschen das soziale Netzwerk Tiktok, davon sind die allermeisten Nutzer:innen unter 25 Jahre alt. "Tiktok ist ein sehr schnelles Medium, das auch schon viele Grundschulkinder nutzen", sagt Heinemann. Erlaub ist die Nutzung laut den AGBs allerdings erst ab 13 Jahren. Beauty-Tipps, Tanzvideos und politische Nachrichten wechseln sich dort wild durcheinander ab. Auch ohne Hashtags einzugeben, gesellen sich zwischen die Videos ziemlich schnell Kriegsszenen aus der Ukraine. Und wer danach sucht, kann unendlich weiterschauen.

"Über Hashtags findet jeder sehr schnell viele Beiträge zum gewünschten Thema und schon prasselt der Krieg auf mein Kinder- oder Jugendzimmer ein", so Heinemann. Und der Wunsch nach Informationen über den Krieg sei erstmal völlig berechtigt. Auch wir Erwachsenen informieren uns dazu und das Thema Krieg in der Ukraine werde in den gängigen Erwachsenenmedien breit dargestellt. "Da sind schon mal brutale Bilder dabei, davor können wir auch Jugendliche nicht schützen", so Heinemann.

Echtheit der Videos ist unmöglich nachzuprüfen

Ein Militärhubschrauber fliegt durch eine Rauchwolke, plötzlich sieht man Soldaten, die auf etwas in der Luft zielen, Schussgeräusche, englische Wortfetzen, Geschrei, Hubschrauberproppellern sind zu hören. Die letzte Einstellung ist dann ein Blick auf eine öde, erdige Landschaft, in der Ferne steigt eine schwarze Rauchwolke auf, Jubel unter den Soldaten. Das Video ist unter dem Hashtag "War in Ukraine" zu finden.

Wo und wann das Gesehene genau passiert und wieso die Soldaten Englisch sprechen und ob da wirklich ein Hubschrauber abgeschossen wird oder nur einige Szenen zusammengeschnitten und mit dem passenden Sound unterlegt wurden, ist nicht rauszufinden. Es könnten genauso gut Szenen von vor vielen Jahren im Irak oder in Afghanistan sein. Oder ein Zusammenschnitt aus allem.

Auch Erwachsene können Distanz zu Bildern nicht immer wahren

Das allermeiste auf Tiktok sind nicht geprüfte Inhalte und das sei eines der größten Probleme, so Heinemann. Die fehlenden Quellen und die Unmöglichkeit das Ganze auf seine Echtheit zu überprüfen, sollte man unbedingt mit Kindern und Jugendlichen besprechen. Folgende Frage sei dabei besonders wichtig: "Wissen wir überhaupt, dass das, was die zeigen, auch das ist, was sie vorgeben zu zeigen?" Man sollte sich ruhig die Zeit nehmen, sich hinsetzen und gemeinsam Faktenchecks machen und zwar ohne moralische Bewertung dessen, was sich die Kinder und Jugendlichen da ansehen.

Darauf, dass Kinder und Jugendliche gut zwischen Fiktionalem und Realem unterscheiden können, könne man sich in der Regel verlassen, so Heinemann. Deswegen stimme das Vorurteil auch nicht, dass Kinder die Ego-Shooter-Spiele spielen, später im Leben zu Attentätern werden. Dennoch hält Heinemann es für schwierig, wenn Tiktok-Videos bewusst, die Ästhetik eines Spiels bekommen, sei es durch Musik oder durch Optik. Auch das sei eine Form der Desinformation und es werde schwieriger, Distanz zu wahren, auch für Erwachsene. Wichtig sei vor allem auch als gutes Vorbild voran zugehen, seinen eigenen Medienkonsum zu überprüfen.

Wissen wir überhaupt, dass das, was die zeigen, auch das ist, was sie vorgeben zu zeigen?

Kerstin Heinemann, Institut für Medienpädagogik

Tiktok reduziert Nutzbarkeit für Russ:innen

In Russland ist Tiktok anders als Twitter und Facebook nicht gesperrt. Nach der Verschärfung des russischen Mediengesetzes, demzufolge keine der vom Kreml abweichenden Sicht über den Krieg in der Ukraine verbreitet werden darf, trifft Tiktok nun selbst Vorsichtsmaßnahmen: Russen können seit einigen Tagen keine Inhalte mehr streamen und keine Posts mehr hochladen, teilte das chinesische Unternehmen auf Twitter mit. Russland hat Geld- und Haftstrafen bei Verstößen gegen das Gesetz verhängt und die Sicherheit der Nutzer:innen und Mitarbeiter:innen hätte höchste Priorität.

Medien tragen bei Tiktok große Verantwortung

Die unendlichen vielen unkuratierten Posts zum Krieg in der Ukraine - fake oder wahr - verdeutlichen vor allem eines: Tiktok-Kanäle, die von verantwortungsvollen Medien betrieben werden, haben in dieser Zeit großes Gewicht. Es gibt Medien in Deutschland, die Tiktok-Kanäle haben. Der Tagesschau-Account hat immerhin 1,2 Mio Abonnenten und in den letzten Tagen wurden dort regelmäßig Beiträge zum russischen Krieg in der gepostet, auf denen ein:e Host:in bestimmte Aspekte dazu erklärt. Kriegsbilder aus der Ukraine sieht man dort so gut wie kaum. Auch Funk hat ein Angebot, das auf konkrete Fragen eingeht, zum Beispiel, ob Russland auch Deutschland angreifen wird. Reportermaterial aus dem Krisengebiet selbst, fehlt auch hier.

US-amerkanische Medien gehen teilweise anders an die Sache heran. Viceworldnews zeigt beispielsweise Beiträge direkt aus der Ukraine und sogar aus Russland. In einem Clip heiraten zwei Soldat:innen an der Front, Vitali Klitschko überreicht ihnen Blumen. In einem anderen erzählt eine Jugendliche, wie sie mit ihrer Familie in die ukrainischen Berge geflohen ist. Über deutsche Medien schimpfen, möchte Heinemann an dieser Stelle nicht. Sie findet, es bewege sich bereits viel. Aber auch sie wünscht sich, dass es von Seiten der Medien mehr Angebote aus jugendlicher Perspektive gibt.

Beitrag von Anna Bordel

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