Bezirksämter am Limit - Hunderte geflüchtete Ukrainer stehen für Sozialhilfe Schlange
Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine kommen oft mittellos an. In den Sozialämtern können sie Hilfe beantragen. Doch die sind am Limit - Neuköllns Bezirksamt kann seiner regulären Arbeit nicht mehr nachkommen. Von Tom Garus und Jenny Barke
Dicht gedrängt stehen sie am Eingang zum Neuköllner Bezirksamt und warten seit Stunden: Hunderte Ukrainerinnen und Ukrainer, die meisten von ihnen sind nur mit einer Tasche nach Berlin geflohen und stehen hier vor dem Nichts. Sie brauchen eine Unterkunft und finanzielle Unterstützung, erhoffen sich Hilfe vom Sozialamt Neukölln.
Auch Karina friert seit dem frühen Morgen gemeinsam mit ihrer Mutter in der Schlange. "Es ist sehr schwer für uns. Wir sind drei Tage aus der Ukraine geflohen, zunächst in eine andere ukrainische Stadt, dann nach Deutschland", sagt Karina. In Berlin kannten sie niemanden, wussten nicht, wohin. Sie sprechen kein Deutsch, kaum Englisch. Ihr Glück war Marzena Bartnik. Sie kommt ursprünglich aus Polen und wollte helfen. Nachdem sie Mutter und Tochter am Sonntag am Hauptbahnhof empfangen hat, hilft sie ihnen bei den Behördengängen und übersetzt.
Freiwillige Helfer im Behördendschungel
"Also ich bin mit den beiden um 7:30 Uhr hier gewesen, wir waren froh, dass die Schlange noch nicht ganz so lang war. Und heute wurden wir nicht abgewiesen." Ein Erfolg nach einer dreitägigen Odysee: Am Montag hatten sie es beim Bürgeramt für Flüchtlinge im Rathaus Tiergarten versucht und wurden abgewiesen, weil sie zu spät waren und bereits zu viele vor ihnen warteten.
Obwohl sie vorher extra die Bürgerhotline angerufen habe und diese ihnen zugesagt hatte, dass sie kommen dürften, sagt Bartnik. Dienstag hätten sie es erneut probiert, aber nur Formulare in die Hand gedrückt bekommen. "Ich arbeite, mache das alles nebenbei. Heute habe ich mir extra einen Urlaubstag genommen."
Auch Constanze Hach hat eine ukrainische Familie bei sich aufgenommen. Ohne ihre Hilfe würde diese wohl kaum den Behördendschungel durchsteigen: Welche Behörde ist für was zuständig? Wo für was anmelden? Schon auf Deutsch scheint Hach das System undurchschaubar: "Es ist alles sehr schwierig, sehr viele Fragezeichen, wir versuchen, wie es für Mutter und Tchter weitergehen können, ich sehe den Ansturm, es ist einfach Wahnsinn!"
Sozialhilfe wird nach Wohnortprinzip vergeben
Um den Menschen aus der Ukraine schnell zu helfen, hatten die Sozialstadträte vergangenen Freitag verabredet, dass künftig das sogenannte Wohnortprinzip für die Leistungsgewährung für die Geflüchteten gilt [berlin.de]. Im Klartext: Der Bezirk ist zuständig, in dem die Ukrainerinnen und Ukrainer untergebracht sind. Die Regelung soll dabei helfen, die Arbeit gleichmäßiger auf alle Bezirke zu verteilen. Denn bisher meldeten sich die meisten Menschen in Reinickendorf und Mitte an, nahe der Ankunftsorte und Flüchtlingsunterkünfte.
Das Bezirksamt Neukölln bemerkt nach Angaben des Sozialstadtrats Falko Liecke (CDU) den großen Andrang der Geflüchteten so erst auch seit dieser Woche. Hunderte Menschen stünden täglich Schlange. Die Mitarbeitenden des Sozialamts des Bezirks kämen kaum hinterher, die Anmeldungen zu bearbeiten. Pro Tag können auch nur 80 Menschen vom Bezirk aufgenommen werden - an diesem Donnerstag ausnahmsweise mal 120, weil mehr Personal eingesetzt wurde, so Liecke. "Das können wir nicht jeden Tag durchhalten. Ich muss schauen, dass mir nicht die Kollegen wegbrechen", so Liecke.
Mitarbeiter des Bezirks arbeiten im Akkord
Während draußen viele Ukrainerinnen und Ukrainer in der Kälte frieren, arbeiten die Mitarbeiter im Sozialamt Neukölln im Akkord. Mit dabei auch Carl Collete, der sonst im Hochbauamt Neukölln arbeitet und zur Unterstützung angefragt worden ist. "Man freut sich, dass man den Leuten helfen kann. Nach so einem Tag bin ich müde, es ist körperlich belastend, aber auch emotional."
Trotz der zusätzlich eingesetzten Mitarbeiter kommt die Behörde kaum hinterher. Anträge müssen gemeinsam ausgefüllt, Übersetzer eingesetzt werden. In vielen Fällen bleiben Fragen ungeklärt. Ein ukrainisches Ehepaar ist mit der minderjährigen Schwester der Frau geflohen. Hier muss das Jugendamt hinzugezogen werden, weil sie kein Sorgerecht hat, vermutet Stadtrat Liecke.
Sozialämter am Limit
Insgesamt 28.000 Menschen aus der Ukraine hätten sich bereits bei den Sozialämtern der Bezirke angemeldet, sagte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey am Morgen im rbb Inforadio. Die seien nicht dafür ausgelegt, bestätigt sie, nachdem bereits am Dienstag Liecke und seine Kollegin aus Reinickendorf, Sozialstadträtin Demibürken-Wegner (CDU), mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die bezirklichen Sozialämter angefordert hatten.
Giffey und Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) schlagen vor, die Auszahlung von sozialen Hilfeleistungen auf die Jobcenter umzulagern. "Denn das ist ja der große Unterschied zu 2015. Die Menschen haben ein Aufenthaltsrecht, die haben ein Arbeitsrecht. Und aus unserer Sicht müssen wir voll auf Integration setzen." Zugleich würden die kommunalen Sozialämter entlastet und die Aufgaben quasi auf die Bundesagentur für Arbeit umverteilt.
Geldautomaten für Sozialhilfe in einigen Ämtern leer
Bis dahin sind die Sozialämter aber noch auf sich allein gestellt. In Neukölln hat das zur Folge, dass die reguläre Arbeit seit Montag ausgesetzt wird. "Wir schaffen es einfach nicht", sagt Mitarbeiterin Lana Radeta. "Wir haben noch die reguläre Infotheke mit den Hilfsempfängern, die wir bearbeiten, Notfalltelefon, die Posteingänge und die Flüchtlinge. Das ist echt hart."
Hinzu kommt die Obdachlosenhilfe und sämtliche Grundsicherung - alles ist komplett weggefallen. Laut Sozialstadtrat Liecke sind in einigen Ämtern bereits die Geldautomaten für die Sozialhilfe leer. Er kritisiert die fehlenden Strukturen: "Wir werden überschüttet mit Fragen, die wir nicht beantworten können. Zum Aufenthaltsrecht, zur Leistungsgewährung, zu Kita- und Schulplätzen und Sprachkursen, zur sozialen Komponente."
Brandbrief an Giffey
Und auch die Informationspolitik sei mangelhaft: "Das ist abenteuerlich, es ist einfach nicht klar, wo man sich registriert. Die Bürgerinnen und Bürger, die helfen wollen, werden mit mangelnden Informationen allein gelassen." Das sei für ihn sehr schwer nachzuvollziehen.
Liecke hat angekündigt, im Namen der Sozialstadträte Berlins einen Brandbrief an die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey zu schreiben. Darin sollen die Defizite aufgelistet werden. Er hofft, dass bald nachjustiert wird. "Wir saufen ab. Und wir sind gerade mal an Tag vier."