Interview | Psychische Belastung durch Krieg - "Die Geister des Traumas melden sich oft nachts"
Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten, leiden oft unter schweren psychischen Belastungen. Das Ambulatorium für Seelische Gesundheit in Berlin bietet niedrigschwellige Unterstützung an – auf Ukrainisch und Russisch.
Als ärztlicher Leiter des Vivantes-Zentrums für transkulturelle Psychiatrie hat Prof. Dr. Peter Bräunig seit 2005 Erfahrung mit der psychischen Belastung von Menschen, die vor Krieg und Terror nach Berlin flüchten. Zu seinen Patienten zählten ebenso Kontingentflüchtlinge aus den Republiken der zerfallenden Sowjetunion wie Menschen, die unter den Folgen des Arabischen Frühlings oder der Verfolgung durch Assad in Syrien litten.
Jetzt bietet das Ambulatorium für Seelische Gesundheit [vivantes.de] am Standort in Reinickendorf Geflüchteten aus der Ukraine niedrigschwellige Unterstützung in ihrer Muttersprache an. Dafür stehen fünf Ärztinnen, drei Psychologen und zwei Sozialarbeiter zur Verfügung. Das Besondere: Sie alle sprechen Ukrainisch oder Russisch.
Auch Gastgeber sind eingeladen, mit ihren Gästen präventiv das Zentrum aufzusuchen. So kann verhindert werden, dass sich Belastungsstörungen durch Krieg und Flucht zu schweren psychischen Traumata entwickeln. Die Beratung ist für die Hilfesuchenden kostenlos.
rbb|24: Herr Prof. Bräunig, wie geht es den Menschen, die jetzt als Geflüchtete aus der Ukraine bei uns leben?
Peter Bräunig: Die meisten Geflüchteten aus der Ukraine, die zu uns kommen, sind akut belastet. Und das sieht man ihnen auch an - sie sind erschöpft und müde, sie sind unruhig oder apathisch, ihnen ist Angst anzumerken. Sie sorgen sich um ihre Männer und ihre Kinder. Sie sorgen sich darum, dass sie in die Schule gehen, ein materielles Auskommen haben und eine Unterkunft. Insofern haben die meisten von ihnen mehr oder weniger schwer ausgeprägte Belastungsreaktionen.
Wie äußert sich das denn jetzt im Augenblick? Womit muss ich zum Beispiel rechnen, wenn ich jetzt eine Familie aufnehme?
Wenn Sie Gastgeber von kriegsgeflüchteten Menschen sind, müssen sie damit rechnen, dass manchmal sehr unverhofft heftige Reaktionen gezeigt werden, entweder verbal oder durch Unruhe oder nächtliche Unruhe. Die Geister des Traumas melden sich oft nachts.
Das heißt, die Menschen laufen vielleicht durch die Wohnung?
Ja, sie werden scheinbar für uns unvermittelt unruhig, laufen durch die Wohnung, wirken hektisch. Und mir ist aufgefallen, gerade jetzt in dieser Krise, dass viele der Betroffenen unglaublich intensiv und lange am Handy sind. Sie suchen den Kontakt nach Hause und werden unruhig, wenn die Kontaktnahme nicht gelingt, weil sie sich Sorgen um ihre Angehörigen machen. Männer, Söhne und Väter sind zu Hause, die Brüder sind zuhause. Das ist ein kritischer Punkt für viele, die hier angekommen sind.
Was mache ich denn als Gastgeber, wenn diese Unruhe auftritt?
Eine ganz wichtige Aufgabe der Gastgeber ist es, Sicherheit zu vermitteln, den Betroffenen ganz deutlich werden zu lassen, dass sie wohlbehütet sind, nicht nur Obdach erhalten, sondern auch willkommen sind. Und auch, dass es niemanden stört. Und dass sie eine Gelegenheit haben, mit den Angehörigen zu Hause zu telefonieren.
Auch, dass sie allein für sich sein dürfen. Wenn man es einrichten kann aufgrund der eigenen Wohnverhältnisse, halte ich das für sehr wichtig, weil es anstrengend sein kann, Gast zu sein. Genauso wie es manchmal anstrengend ist, Gastgeber zu sein.
Können Sie das konkretisieren?
Es ist ein unausgesprochener Imperativ des Wohlverhaltens, den Gastgebern zu entsprechen. Und ich glaube, gerade in so einer Situation der Hochanspannung ist es ganz wichtig, sich auch mal spontan geben zu können, zu weinen, ohne dass jemand dabeisitzt, seine Kinder zu herzen.
Wenn es räumlich möglich ist, hilft es, für die Gäste Rückzugsräume zu schaffen: Das ist für sie eine Wohltat. Dessen sollten wir uns wirklich bewusst sein. Und es wäre gut, wenn wir sie nicht permanent dazu anhalten und auffordern, dankbar zu sein und das entsprechend auch zum Ausdruck zu bringen.
Würden Sie davon sprechen, dass die Menschen traumatisiert sind?
Es wäre zum einen nicht richtig, das, was wir jetzt sehen, zu aggravieren und zu sagen, sie sind alle schwer traumatisiert. Das geben die Situationen nicht her. Aber ich glaube, dass man niederschwellige Angebote machen muss für Erwachsene und für Kinder, sich rechtzeitig Rat holen kann, bevor die Störungen schlimm werden, vor allem für die Kinder.
Was kann das Zentrum für transkulturelle Psychiatrie da bieten?
Wir machen auch Gruppenangebote. Also nicht nur Medizin und klassische Psychotherapie, sondern Gesprächsangebote. Wir planen zudem häufig gestellte Fragen von Gastgebern zu beantworten.
Werden Sie die Gastgeber auch gemeinsam mit ihren Gästen beraten?
Ja, gern wollen wir sie begleitet sprechen und Interaktionen moderieren – sofern es möglich ist. Wir wollen Gesprächsgruppen organisieren für Mütter mit Kindern, um den Austausch zu fördern: Wie kommst du zurecht, was hast du erlebt, wie hast du das organisiert?
Werden solche Gespräche dann auch in der Muttersprache möglich sein?
Wir haben die Erfahrung machen können, dass die Patienten gern muttersprachlich behandelt werden. Und dass Übersetzungen auch immer – selbst wenn wir ohne sie nicht auskommen – auch mit Nachteilen behaftet sind. Manchmal schaffen sie auch ein bisschen Misstrauen, weil die Übersetzung nicht immer transparent ist. Insofern war uns schnell klar, dass muttersprachliche Angebote eine tolle Sache sind. Und dass wir das anbieten, ist kein akademisch getriggertes Vorhaben, sondern aus der Empirie und der Lebensrealität Berlins gewachsen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Andrea Everwien für die rbb24 Abendschau. Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Version.
Sendung: rbb24 Abendschau, 02.04.2022, 19:30 Uhr