Interview | Militärexperte - "Es geht nicht tatsächlich um den Einsatz von Nuklearwaffen"
Der Ukraine-Krieg macht an sich schon Angst. Meldungen, dass Putin die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzte, verstärken das noch. Militärexperte Ralph Thiele erklärt, warum er die Gefahr eines Nuklearschlags dennoch für gering hält.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Sonntag - dem vierten Tag des Ukraine-Kriegs - angeordnet, die sogenannten Abschreckungskräfte des Landes "in Alarmbereitschaft zu versetzen". Er begründete das mit "unfreundlichen Maßnahmen" des Westens gegen die russische Wirtschaft und "aggressiven Statements" westlicher Staats- und Regierungschefs. Die sogenannten russischen Abschreckungskräfte können auch Atomwaffen umfassen.
Zuvor hatten die USA, Japan und die EU verschärfte Maßnahmen gegen Russland beschlossen, so den Ausschluss bestimmter russischer Banken vom Zahlungssystem Swift. Die Bundesregierung kündigte außerdem an, nun doch Waffen an die Ukraine zu liefern und die Mittel für die Bundeswehr massiv zu erhöhen.
rbb: Herr Thiele, der russische Präsident Wladimir Putin hat die Abschreckungskräfte der russischen Armee in besondere Kampfbereitschaft versetzt. Was genau bedeutet diese Formulierung: "in Kampfbereitschaft versetzen"?
Ralph Thiele: Auch internationale Experten sind sich im Grunde nicht ganz sicher, was Putin meint, denn Nuklearstreitkräfte sind eigentlich immer in einer Sofort-Bereitschaft. Man kann vermuten, dass damit Urlaubssperren und andere Dinge verbunden sind - die aber wahrscheinlich auch sowieso schon stattgefunden haben, sodass das im Wesentlichen jetzt erstmal eine Drohung mit Worten ist. Putin zeigt seine Marter-Instrumente, wenn ich das so sagen kann. Er zeigt, was er tun kann, wie er eskalieren kann Es ist aber im Augenblick etwas Verbales, das sagen soll: Haltet euch raus!
Sie sagen "Marter-Instrumente". Schauen wir mal genauer auf die Atomwaffen: Da ist ja nicht jeder Atomwaffe gleich Atomwaffe. Wovon sprechen wir, wenn von diesen Abschreckungskräften die Rede ist?
Es ist tatsächlich so etwas wie eine Art Geheimwissenschaft. Nur ein kleiner Kreis von Experten befasst sich kompetent mit diesen Fragen. Wir haben, wenn wir jetzt nach Russland schauen, einen Bestand - so hat es eine Vereinigung von internationalen Wissenschaftlern aufgeführt - von 4.500 Sprengköpfen. Diese können eben auch in strategischen Waffen eingesetzt werden. Strategische Waffen sind Waffen wie zum Beispiel Interkontinental-Raketen - mit einer sehr großen Reichweite, die auch mit großer Sprengkraft ausgestattet sind und die andere abschrecken sollen, ihre eigenen Atomwaffen einzusetzen. Es gibt auch taktische Nuklearwaffen. Das ist sozusagen der Einstieg in den Nuklearkrieg. Der kann damit beginnen, dass man in einer hohen Höhe, also im Weltraum, eine ganz kleine Atomwaffe zündet, um elektronische Geräte in einem weiten Bereich kaputtzumachen, Computer, Telefone und so weiter. Das kann, wenn große konventionelle Kräfte aufeinandertreffen, dazu dienen, die konventionellen Kräfte des Gegners zu zerstören. Das sind sozusagen die - aus russischer Planung - klassischen Einstiege in einen Nuklearkrieg.
Das klingt alles sehr bedrohlich. Wie bedrohlich ist es tatsächlich für uns auch hier in Deutschland?
Wir gehen ja immer von der Rationalität der Beteiligten aus und haben auch jetzt, denke ich, bislang keinen Anlass, das nicht zu tun. Alle sind daran interessiert, das Thema Nukleareinsatz unten zu halten. Auch die Reaktion des amerikanischen Präsidenten sind darauf gerichtet. Keiner will das wirklich. Wie gesagt: Putin droht und sagt: Nehmt mich ernst. Aber es geht nicht tatsächlich um den Einsatz von Nuklearwaffen, weil eben diese Voraussetzungen, dass hier große konventionelle Kräfte aufeinandertreffen, nicht gegeben sind.
Vor allem müssten ja auch [russische] Soldaten und Befehlshaber das umsetzen - wenn es denn so weit käme. Ich habe gelesen, es gibt drei Atomkoffer, einer davon bei Putin. Es sind aber zwei nötig, um einen atomaren Schlag überhaupt auszulösen. Ist es denn von vornherein gesagt, dass da überhaupt alle mitgehen würden?
Auch das ist natürlich eine Frage, die man sich stellen kann. In so einer nuklearen Befehlskette - auch um da vielleicht mal eine Sorge wegzunehmen - kann es keine Fehler gehen dahingehend, dass da nur was technisch durchläuft. Es sind immer Menschen zwischendurch drin, die vielleicht sogar Vorhängeschlösser entfernen müssen, damit überhaupt etwas ausgeführt werden kann. Natürlich geht man davon aus, dass die beteiligten Kräfte das dann tun, was ihnen befohlen wird. Nur so würde ja diese gegenseitige Abschreckung funktionieren. Aber Sie haben vollkommen Recht: Der Kopf ist dazwischen, also der Wille der beteiligten Menschen ist dazwischen. Und auch das gibt eine gewisse Rückversicherung.
Wie kommt man jetzt aus dieser Eskalations-Spirale wieder raus? Also welche Gesprächskanäle gibt es da auch vielleicht, die jenseits der Öffentlichkeit eine Lösung bringen könnten?
Gesprächskanäle ist das Stichwort. Tatsächlich geht es darum, dass man die Kommunikation offen hält. Mir fällt jetzt auf Ihre Frage der allseits gescholtene Ex-Kanzler Deutschlands ein, Gerhard Schröder, der einen Gesprächskanal hat und der vielleicht in so einer Situation wichtig sein kann. Aber natürlich gibt es auch direkte Gesprächskanäle, zum Beispiel von amerikanischer Seite mit Russland. Ich denke, es gibt vielseitige Gesprächskanäle.
Der Punkt ist natürlich Putins Grundsorge: In dieser ganzen Auseinandersetzung war es immer so, das keiner auf ihn hört und seine Argumente ernst nimmt. Das muss natürlich kommunikativ wirksam erfolgen. Dass sich beide Seiten ernsthaft miteinander auseinandersetzen und sich auch verstehen.
Nochmal zu den Nuklearwaffen: Keine Besorgnis. Wir sind hier in einem verbalen Gefecht, etwas, was man auch schon bei früheren Gelegenheiten ausgehalten hat. Es ist nicht ernst derzeit.
Sendung: Inforadio, 28.02.2022, 07:20 Uhr