Tagebuch (9): Ukraine im Krieg - "Ich verdamme deine Tante und den Tag, als ich dich geboren habe"

So 22.05.22 | 13:31 Uhr | Von Natalija Yefimkina
Tagebucheintrag vom 13.5 (Quelle: privat)
Bild: privat

Jana ist mit ihren Töchtern bei einer Berliner Familie untergekommen. Doch damit kehrt kein Frieden ein: Ihr Mann ist in der Ukraine, die Mutter beschimpft sie von Russland aus. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über innere und äußere Zerrissenheiten.

Seit einer Woche suche ich ein Zimmer für eine junge Frau aus Kramatorsk, die im 6. Monat schwanger ist. Trotz eines netten Fotos auf Facebook und persönlicher Ansprache finde ich niemanden.

Jeden Freitag gehe ich auf den Wochenmarkt am Arkonaplatz, dort gibt es einen guten Weinstand, Essensbuden und einen Spielplatz. Ich treffe mich dort mit Freunden und Bekannten. Als der Krieg begann, konnte ich nicht mehr hin, weil mir die lachenden, fein gekleideten Menschen mit ihren Gläsern und Austern so unpassend erschienen.

Doch nach mehreren Wochen holte ich mir den Platz zurück, lud Menschen aus der Ukraine ein, die ich zum Teil kannte oder auch zum ersten Mal selbst sah, und wir mischten uns unter die gehobene Mittelschicht zwischen Mitte und Prenzlauer Berg.

Immer wenn es dort spät wird und die Stimmung lockerer, stelle ich alle einander vor: Das hier ist Valentina, sie ist Galeristin aus Belarus, ihr Mitbegründer sitzt leider seit einem Jahr in Haft und die Galerie ist im Exil. Das ist Jurij, ihm wurde das Bein in der Charité amputiert, aber alles andere konnten sie retten. Das ist Lisa, sie kommt aus Krywyj Rih, dort wo die Hunde und die Spatzen rot sind, weil die Ökologie so schlecht ist, das ist in der Ukraine, sie musste fliehen.

Zur Person

Die Regisseurin Natalija Yefimkina (Quelle: Lucia Gerhardt)
Lucia Gerhardt

Natalija Yefimkina lebt in Berlin. Sie ist in Kiew aufgewachsen. Nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zog die Familie zunächst nach Sibirien. In den 1990er Jahren emigrierte die Familie dann nach Deutschland.

Die Einzigen, die ich tatsächlich auf diesem Platz kennengelernt habe, sind Anita und Kai. Kai ist Architekt, Anita leitet eine Pop-up-Galerie für Design Handwerk. Sie hatten sich meinen Film angesehen, er läuft nun den 6. Monat in einem kleinen Kino in der Nähe, und später besuchten sie mich in meinem Atelier. Wenn der Markt zumacht, sind es die beiden, die immer was für alle dabei haben. Ihr dreijähriger Sohn ist auffällig eigenständig, nörgelt nicht, klebt nicht an den beiden, integriert sich in der Menge und spielt.

Ich frage Anita, ob ich mit ihr ein Interview machen kann. Sie sagt ja. Sie leben in einem der neugebauten Privathäuser an der Bernauer Straße, entworfen von Kai. Es sind kleine Paradiese mitten in der Stadt, jedes auf die Bedürfnisse seiner Einwohner ausgerichtet.

Wir treffen uns direkt dort. Ich bitte Anita sich vorzustellen.

Ich bin Anita Hansen, 1981 geboren, also ich bin 41. Letztes Jahr habe ich eine Galerie gegründet und bin sozusagen Kuratorin oder Galeristin.

Wie seid ihr zu euerer ukrainischen Familie gekommen?

Über Valentina, die als Reinigungskraft bei einer Freundin von uns arbeitet. Sie stammt aus der Ukraine und lebt schon seit Jahren hier. Valentina hatte ihre ganze Familie und ihre Verwandten bei sich aufgenommen - alle in ihrer Einraumwohnung. Sie wusste, dass wir gerne eine Mutter mit Kindern aufnehmen wollten. Also im Prinzip hat die Familie uns gefunden.

Wie war der erste Moment?

Es war Samstagabend um sechs, das weiß ich noch. Sie haben uns erst nicht gefunden. Valentina kann ein wenig Deutsch und hat das letztlich gemanaged, weil Jana und ihre Kinder Ira (11) und Emma (7) nur Ukrainisch und Russisch sprechen.

Jana hat man angesehen, dass sie extrem müde und verweint war. Uns war es ganz wichtig, dass sie sich willkommen fühlen, dass es wirklich ein Zuhause für sie ist. Wir stellten einen Strauß Blumen hin und eine Schüssel mit Früchten, das Gästezimmer ist mit eigener Toilette und Dusche ausgestattet, und wir haben eine Herdplatte hingestellt, damit sie wirklich autonom leben können.

Als sie dann ins Zimmer kam, hat man ihr angesehen, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel, dass sie erleichtert war, endlich ihren eigenen Raum zu haben. Kai hatte extra einen Braten gemacht, weil wir sie und Opa und alle zu uns hier hoch einladen wollten. Aber das wurde freundlich abgelehnt: Sie wollten erstmal ankommen und wahrscheinlich auch nicht zu viel von uns verlangen. Sie sind extrem zuvorkommend. Schließlich haben wir ihnen den Braten und das Gemüse in Schüsseln nach unten gebracht. So gings los.

Tagebucheintrag vom 13.5
Anita | Bild: privatBild: privat

"Wir sind einfache Leute und sie sind vielleicht wichtige Menschen"

Wie funktioniert die Kommunikation, wenn man sich gar nicht verständigen kann?

(Lacht) Wir unterhalten uns über Googletranslator, da kommen manchmal sehr lustige Sachen bei raus, was ganz anderes als man sagen möchte. Man muss um viele Ecken denken, um zu verstehen, was sie eigentlich sagen möchten.

Unser Sohn Lenz mochte die Kinder sofort, er hat sie einfach zugequatscht, auf Deutsch, und sie lächelten zurück. Lenz hat sich wahrscheinlich gewundert, warum sie nicht antworten. Wir haben ihm dann gesagt, dass es eine ukrainische Familie ist. Ein paar Tage später hat er mich gefragt, "Wo sind denn die Anderen?".

"Welche Anderen?"

"Wo ist denn der Papa?"

Ich habe gesagt, der ist in der Ukraine, aber ehrlich, ich bin froh, dass er nicht weiter gefragt hat. Ich hätte nicht gewusst, wie ich das einem Dreieinhalbjährigen erklären soll.

Mittlerweile verstehen Emma und Ira den Lenz ziemlich gut. Sie sind jetzt fast vier Wochen in der Schule und lernen Deutsch.

"Ich schlage sie nicht, aber ich erziehe sie auf ukrainische Art"

Am ersten Schultag habe ich gesehen, dass Jana, die Mutter, richtig verheult war. Als ich sie fragte, zeigte sie mir eine Todesanzeige von ihrer Freundin - die Freundin wurde in Butscha vergewaltigt und getötet. Mir kamen sofort die Tränen, aber wir mussten für die Kinder funktionieren. Wir liefen erstmal zur Schule und ich wusste nicht, was ich sagen soll, schon gar nicht mit dem blöden Googletranslator. An der Schule gab es dann einen so herzlichen Empfang. Da stand eine Klasse, die auf Ukrainisch geübt hatte, ‚Herzlich Willkommen‘ zu sagen. Ich sah die Kinder und mir kamen die Tränen. Diesen Moment werde ich nie vergessen.

Wie ist es jetzt für dich, Jana und die Kinder sind ja trotzdem total fremde Menschen.

Sie sind uns alle drei sehr ans Herz gewachsen und Teil der Familie geworden. Es fühlt sich gar nicht so fremd an. Wie kann ich das beschreiben? Jana ist sehr einfühlsam, sie hat oft vor mir geweint und das verbindet. Wir verstehen uns, ich mag sie auch vom Typ, von der Person her. Insofern hatten wir großes Glück.

Sie passt einfach gut hier rein mit den beiden Kindern. Das ist wirklich unabhängig von der Kultur, von dem, wie man aussieht, wer man ist. Man muss nicht mal die Sprache sprechen, an ihren Blicken erkenne ich sowieso ganz viel. Und die Kinder geben uns ein Beispiel: Sie haben keine Vorurteile und es ist egal, ob sie sich sprachlich verstehen, sie spielen halt zusammen. Ich wünschte mir, dass wir alle so agieren könnten, dass wir alle einfach zusammen spielen.

Tagebucheintrag vom 13.5
Emma und Ira | Bild: privat

Jana, die ukrainische Mutter, kommt ins Zimmer mit einem Teller voll mit Pelmeni und wir kommen ins Gespräch. Ich bitte sie sich vorzustellen. Sie spricht Ukrainisch.

Ich bin 35 Jahre alt und habe zwei Kinder, Ira und Emma. Ich bin Friseurin, habe 13 Jahre Arbeitserfahrung. Früher habe ich auch als Kellnerin, Barfrau und Kinderfrau gearbeitet.

Wie hast du den Kriegsbeginn erlebt?

Ich lebte in der Ukraine, in der Gegend um Winnyzja. Ich bin gegangen, als sie in der Nähe fünf Raketen abwarfen. Wir hatten als Beispiele Butscha und Mariupol vor Augen, wo die Menschen nicht mehr herauskamen. Ich hatte einfach Angst um die Kinder.

Wie bist du bei Anita gelandet?

Wir haben ein Monat lang alle in einem Zimmer zusammengelebt, bei Valentina, der Schwester meines Mannes. Dann hat man uns gesagt, dass Anita und Kai uns eine Zeitlang aufnehmen könnten, solange der Krieg andauert. Ich kannte Anita nicht und habe mir Sorgen gemacht, ob sie mich als Mensch mag und meine Kinder.

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten soll, das sind ja fremde Menschen, ein fremdes Land. Wie soll ich das erklären .. wir sind einfache Leute und sie sind vielleicht wichtige Menschen. Deswegen schwieg ich erst mal die ganze Zeit und hörte zu. Ich wusste nicht, was man antwortet und außerdem kann ich die Sprache nicht. Ich hätte etwas auf Ukrainisch sagen können, aber Anita hätte mich nicht verstanden.

Alle Tagebuch-Einträge von Natalija Yefimkina

RSS-Feed
  • Ukraine-Tagebuch: Oksana Chernaja, 42, Rettungssanitäteterin, Bachmut (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (17): Ukraine im Krieg 

    "So leben wir seit neun Monaten und beschweren uns nicht"

    Oksana ist Professorin für Ökonomie. Eigentlich. Seit Kriegsbeginn dient sie freiwillig als Rettungssanitäterin. Natalija Yefimkina spricht in ihrem Kriegstagebuch mit Oksana über den Alltag an der Front – und den Dauerbeschuss der Stadt Bachmut.

  • Swetlana aus Cherson. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (16): Ukraine im Krieg 

    "Jemand verrät jemanden. Trotzdem, ich verurteile niemanden"

    Swetlana legt Tarotkarten – und ist damit nicht nur in Cherson ziemlich erfolgreich. Mit den Karten kommen die Geschichten ihrer Kunden zu ihr. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über systematischen Raub, Ursachen von Verrat und streunende Hunde.

  • Haus und Garten von Mykola Ivanovich Smoljarenko in der Ukraine (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (15): Ukraine im Krieg 

    "Alle Tiere, die wir hatten, sind weg"

    Gemüse anbauen, Tiere füttern, fischen gehen - das war bisher das Leben des ukrainischen Rentners Mykola Ivanovich Smoljarenko. Dann kam der Krieg bis in seinen Garten. Natalija Yefimkina hat in ihrem Ukraine-Tagebuch Mykolas Geschichte aufgeschrieben.

  • Archivbild: Feuerwehrleute in Kiew arbeiten nach dem Beschuss von Gebäuden durch eine Drohne. (Quelle: dpa/E. Lukatsky)
    dpa/E. Lukatsky

    Tagebuch (14): Ukraine im Krieg 

    "Wir lesen jeden Tag dieses Grauen"

    Die Russen nutzen vermehrt Drohnen, um die Ukraine anzugreifen, erzählt der Vater von Natalija Yefimkina. Jeden Tag sei Bombenalarm und alle stünden ständig unter Stress. In ihrem Kriegstagebuch hat sie das Gespräch aufgezeichnet.

  • Tagebuch: Ukraine im Krieg (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (13): Ukraine im Krieg 

    "Es war verrückt, dass das Tattoo eine solche Macht hatte"

    Ein Zufall hat Tilde aus ihrem Kaffeeladen in Schweden an die Front in der Ostukraine geführt. Natalija Yefimkina berichtet in ihrem Kriegstagebuch über eine Frau, die ihren ganz eigenen Umgang mit dem Grauen in der Ukraine hat.

  • Tagebuch Ukraine (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (12): Ukraine im Krieg 

    "Sie fahren besoffen mit ihren Militärfahrzeugen in den Gegenverkehr"

    Anja hat wochenlang im besetzten Cherson ausgeharrt – bis ihr die Flucht glückte. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über Anjas Alltag unter russischer Okkupation, den Fluch der Propaganda und Müllhalden mit Leichenteilen.

  • Bohdan. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (11): Ukraine im Krieg 

    "Sucht nicht den Krieg, er wird euch von selbst finden"

    Das Azot-Werk ist ein gewaltiger Industriekomplex in Sjewjerodonezk. Seit Wochen kämpft hier Bohdan gegen die Russen. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über einen Freiwilligen, der den Krieg da erlebt, wo er am schlimmsten tobt.

  • Ukraine-Tagebuch. (Quelle: privat)
    Quelle: privat

    Tagebuch (10): Ukraine im Krieg 

    "Den Mädchen wurden die Zähne ausgeschlagen, die Vorderzähne"

    Wer zu Tatiana kommt, ist am Ende. Die Psychologin arbeitet in Kiew mit den schwer misshandelten Opfern des Krieges. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über den Versuch, sich aus dem Grauen wieder herauszukämpfen.

  • Tatjanas Familie. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (8): Ukraine im Krieg 

    "Es war sehr gefährlich, Wanja herauszubringen"

    Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine. Für diesen Tagebucheintrag hat sie mit Tatjana gesprochen. Die hat ihren Sohn Wanja aus Donezk herausgebracht, damit er nicht gegen die Ukraine kämpfen muss.

  • Tagebuch: Ukraine im Krieg. Journalistin Tatjana (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (7): Ukraine im Krieg 

    "Man konnte zur Kochstelle laufen, umrühren und sich wieder verstecken"

    Tanja ist eine erfahrene Kriegskorrespondentin. Über Wochen ist sie im belagerten Mariupol eingeschlossen. Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

  • Zettel in den ukrainischen Nationalfarben (blau und gelb) hängen an einer Brüstung des Ufers der Moskwa, im Hintergrund sind Gebäude des Hochhausviertels Moskwa City zu sehen. (Quelle: dpa/Ulf Mauder)
    dpa/Ulf Mauder

    Tagebuch (6): Ukraine im Krieg 

    "Du wirst es doch nicht so publizieren, dass man weiß, wer ich bin?"

    Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine. Für diesen Tagebucheintrag hat sie allerdings Kontakt mit Freunden und Bekannten in Russland aufgenommen - es sind für sie keine einfachen Gespräche.

  • Andrei und seine Frau Elena vor ihrem Hotel Stockholmstudios in Irpin (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (5): Ukraine im Krieg 

    "Sie schossen durch die Küchentür, mit einem Abstand von vier Metern"

    Andreis kleines Hotel in der Nähe von Kiew wird beschossen. Kurz darauf dringen russische Soldaten ein: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

  • Alexander Sasnovski vor dem Krieg zu Hause in Mariupol. (Quelle: privat)

    Tagebuch (4): Ukraine im Krieg 

    "Ich wache morgens auf und denke, ich bin zu Hause, aber ich habe kein Zuhause mehr"

    Alexander und seine Frau wollten Mariupol nicht verlassen. Doch Putins Krieg zwang sie zur Flucht: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

  • Viktor mit seinem Sohn Zenja in Deutschland (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (3): Ukraine im Krieg 

    "Er hat immer davon geträumt, ein Offizier zu werden. Gestorben ist er am 27. Februar"

    Ein Vater spricht über seinen im Krieg gefallenen Sohn, die fliehende Familie erreicht endlich Berlin: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

  • Oleg sitzt als Beifahrer in dem Transporter. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (2): Ukraine im Krieg 

    "Bitte komm, Oma, es ist Krieg!"

    Die Regisseurin Natalija Yefimkina hat ukrainische Wurzeln. Seit Tagen hält sie Kontakt mit den Menschen vor Ort. In diesem Tagebuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch was die Situation mit ihr macht.

  • Die Ukrainerin Julia T. hat sich entschieden, mit ihren beiden Kindern aus der Ukraine zu fliehen. Die beiden Kinder im Zug. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (1): Ukraine im Krieg 

    "Julia, entscheide dich!"

    Die Regisseurin Natalija Yefimkina hat ukrainische Wurzeln. Seit Tagen hält sie Kontakt mit den Menschen vor Ort. In diesem Tagebuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch was die Situation mit ihr macht.

  • Berichte aus der Ukraine 

    "Ich will nicht für die Ukraine sterben, ich will für sie leben!"

    Plötzlich leben die Menschen in der Ukraine im Krieg. Eine Lehrerin harrt voller Angst auf dem Land aus. Ein Fabrikarbeiter baut Molotow-Cocktails. Ein Chirurg arbeitet seit sechs Tagen ohne Pause. Sieben Protokolle aus der Ukraine.

"Man fällt und steht wieder auf, aber Kinder lässt niemand alleine"

Und wie war das?

Alles läuft über den Googletranslator. Er übersetzt aber nicht gut, Anita versteht es oft nicht und ich weiß nicht, was er da übersetzt. Ich dachte, vielleicht ist das Ukrainisch-Programm schlecht und schrieb ein paar Worte auf Russisch und ein paar auf Ukrainisch, aber es kam Moldauisch dabei raus. Ich will ihr so viel sagen und das geht nicht (lacht).

Wie fühlst du dich hier?

Bei Anita gut. Aber die Kinder sind es gewohnt, zuhause emotional zu reagieren, sie zanken sich, sie schlagen sich, es sind lebendige Kinder, und ich mache mir manchmal Sorgen, wie Kai und Anita darauf reagieren. Ich schlage sie nicht, aber ich erziehe sie auf ukrainische Art, also streng: Sie sollen ihr Bett machen, ihre Schuhe selber putzen. Deutschland hat eine Kultur und die Ukraine eine andere. Ich erziehe sie, damit sie später lebensfähig sind, denn wenn sie etwas im Kleinen können, werden sie auch Größeres erreichen.

Die Kinder sollen Achtung vor den Dingen haben und Ordnung kennen. Wenn sie dann jemanden mögen, ob es ein Ukrainer, Deutscher oder Schwarzer ist, das ist dann ihre Entscheidung. Denn sie sind Mädchen und für Mädchen ist es härter als für Jungs. Ukrainische Frauen waschen, räumen auf, kochen, arbeiten und passen noch auf die Kinder auf. Hier bei den Deutschen sehe ich, das Kai das Essen macht und die Spülmaschine einräumt. Für mich ist das schwer, weil die ukrainische Frau alles macht.

Aber das ist doch gut für die Frau?

35 Jahre so zu leben und dann umzuschalten, vor allem den Mann umzuschalten, ist nicht so einfach. Wenn ich meinem Mann sage, hier ist es so und so, dann sagt er, dann bleib doch da. Ich will nicht in Deutschland bleiben, ich will in der Ukraine leben, aber ich kann die Kultur nicht ändern.

Wie ist es mit Anita?

Ich werde mein Leben lang dankbar sein. Emma versteht das noch nicht, aber Ira sagt zu mir… ach, jetzt muss ich weinen … Ira sagt, Anita und Kai kannten uns nicht und haben uns trotzdem zu sich genommen. Wieso haben sie das gemacht? Sie sind doch wildfremde Menschen!

Meine Mama lebt in Russland. Obwohl wir verwandt sind, unterstützt sie uns nicht, aber fremde Menschen helfen uns. So lange ich lebe werde ich den Kindern Anita und Kai als Vorbild vorführen.

Was ist mit deinen Eltern?

Meine Mutter ist Russin, sie lebt in Russland. Ich bin bei meiner Oma aufgewachsen und mit meiner Tante, sie nenne ich Mama. Mein Vater ist Invalide, er ist gelähmt. Er spricht nicht mehr, es geht ihm sehr schlecht. Er hatte mal einen Unfall und dabei einen Schädelbruch erlitten.

Wann war dieser Unfall?

Ich war neun Jahre alt. Meine Mutter wollte mich und meinen Vater nicht länger bei sich haben, ich weiß bis heute nicht, warum. Sie schrieb dann seiner Schwester, dass sie ihn und mich, in die Ukraine holen soll.

Mein Vater musste bei null anfangen. Er wusste nicht, dass ich seine Tochter bin, er konnte nicht essen, er konnte nicht laufen, er konnte nicht mal den Löffel halten. Wie ein kleines Kind. Papa war früher Fähnrich, wir haben gut gelebt. Aber nach dem Unfall brach alles zusammen.

Aber warum hat deine Mutter dich weggegeben?

Vor zwei Jahren, da war ich 33, hat sie sich zum ersten Mal gemeldet. Ihre Schwester hatte mich ausfindig gemacht und gesagt, dass Mama in Russland mit einem neuen Mann lebt. Wie viele Jahre hatten wir nichts voneinander gehört? Meine Mutter hat mir all die Jahre nicht ein einziges Mal geschrieben.

Ich habe Achtung vor ihr, weil sie meine Mama ist und mich geboren hat. Aber weißt du, ich habe zwei Mädchen und bin durch den Krieg in einer schwierigen Lage. Man fällt und steht wieder auf, aber Kinder lässt niemand alleine. Eine Katze verlässt nicht ihre Kätzchen. Ich verstehe das nicht. Ich bin ihre einzige Tochter, ich würde jeden Job annehmen, für wenig Geld, egal, ich würde alles machen, aber ich würde nie mein Kind zurücklassen.

Und jetzt schreibt sie mir, dass ich aus der Ukraine bin, und sie hasse Ukrainer. Sie wolle mich nicht sehen, ich solle ihr nicht schreiben. Sie hat geschrieben: Ich verdamme deine Tante und den Tag, als ich dich geboren habe. Ich musste zwei Tage weinen, Anita hat das gesehen, was sie geschrieben hat. Dann schrieb ich zurück, wie kannst nur, du bist doch Mama… wie kannst du als Russin Ukrainer verdammen?

Gestern sprach ich mit meinem Mann und er fragte mich, wann wir in die Ukraine zurückkommen. Ich würde schon gerne zurück, aber dort ist ständig Bombenalarm und die Raketen fliegen. Wir müssen abwarten. Aber er sagte, Jana, das kann noch ein Jahr dauern und ich fragte ihn, wie, ein Jahr? Ein Jahr!? Die Menschen sterben, alle Länder helfen uns, kann denn nichts diesen Krieg aufhalten? Und er sagte, Jana, ein ganzes Jahr!

Jana fängt an zu weinen

Ich konnte dann gestern nicht schlafen … Die Kinder wollen zum Vater. Wir reden zwar am Telefon, aber wir entfernen uns voneinander. Er will, dass wir alle wieder zusammen sind, aber wir müssen hier noch durchhalten. Ich will, dass sie zur Schule gehen, keinen Stress haben, und dort gibt es keine Schule, nichts, dort ist Krieg.

Mein Mann und ich unterstützen uns, aber wir sind weit weg. Ich verstehe, dass wir Opfer bringen müssen, aber es gibt hier keine Arbeit, es gibt nichts, es ist ein fremdes Land. Ich kann die Sprache nicht und alles kommt auf einmal. Manchmal kann ich nicht mehr und gehe auf die Toilette, damit die Kinder nicht sehen, dass ich weine. Aber Ira ist groß, sie versteht alles, sie sieht, dass ich mir Sorgen mache, aber ich kann nicht anders. Oh Gott, wie sehr möchte ich, dass das alles ein Ende hat!

Als ich den Text fertig habe und an diesem Freitag etwas verspätet auf dem Arkonaplatz ankomme, frage ich in die Runde, wer denn ein Zimmer für die schwangere junge Frau aus Kramatorsk hätte. Einer dieser geleckten Typen sagt zu mir, "Bring doch jetzt keine Schwere rein, wir wollen hier doch einfach nur einen trinken".

Abends bekomme ich von der Frau aus Kramatorsk eine SMS:

"Hallo, Natascha! Es ist vorbei. Du brauchst nicht mehr nach einem Zimmer zu suchen. Wir haben schon gepackt. Morgen fahren wir um 5 Uhr früh zurück. Heute hatte ich eine Ultraschalluntersuchung. Ein Junge! Ich denke, er wird ein richtiger Kämpfer!"

Beitrag von Natalija Yefimkina

Nächster Artikel