Interview | Hilfsbereitschaft für Ukrainer:innen - "Wer bereits 2015 Menschen aus Syrien half, wird tendenziell auch jetzt wieder aktiv"

Do 17.03.22 | 06:03 Uhr | Von Hasan Gökkaya
Ein Mann schläft in einem Zelt für Geflüchtete aus der Ukraine vor dem Hauptbahnhof auf Bierbänken. (Quelle: dpa/Michael Hanschke)
Bild: dpa/Michael Hanschke

Ist die Hilfsbereitschaft für ukrainische Flüchtlinge größer als für Menschen aus Syrien und Afghanistan? Und wie wirkt sich die sogenannte kulturelle Nähe aus? Ein Gespräch mit der Migrationsforscherin Zeynep Yanasmayan.

Die Hilfsbereitschaft gegenüber Schutzsuchenden aus der Ukraine ist enorm. Viele Menschen spenden Kleidung, Essen, Geld oder nehmen Geflüchtete direkt bei sich zuhause auf. Auch die Politik zieht mit: Ukrainer kommen schnell in Ankunftszentren unter, die EU gewährt ihnen einen vorübergehenden Schutzstatus mit weitgehenden Freiheiten.

Erinnert diese Hilfsbereitschaft an die vergangenen Jahre, als vor allem Syrer und Afghanen Schutz suchten - oder ist sie in Wirklichkeit viel größer? Welche Faktoren eine Rolle spielen, erklärt Zeynep Yanasmayan im Interview. Sie ist Leiterin der Abteilung "Migration" im Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) in Berlin.

rbb|24: Frau Yanasmayan, wie nehmen Sie die Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine wahr?

Zeynep Yanasmayan:
Die Hilfsbereitschaft ist derzeit sehr hoch. Allerdings haben wir auch in 2015, als viele Menschen aus Syrien nach Deutschland kamen, ein sehr großes gesellschaftliches Engagement erlebt. Wir wissen aus einer Studie von 2019 [bmfsfj.de], dass rund 12 Prozent der Menschen in Deutschland schon einmal Geflüchteten geholfen haben. Das ist kein kleiner Wert. Aus einer kürzlich von unserem Institut durchgeführten Schnellumfrage [dezim-institut.de] wissen wir zudem: Wer selbst Fluchterfahrung hat, ist besonders häufig bereit, Kriegsflüchtlingen zu helfen. Und beobachten lässt sich jetzt auch: Wer bereits 2015 Menschen aus Syrien half, wird tendenziell auch jetzt wieder aktiv.

Lässt sich sagen, ob die Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Schutzsuchenden größer ist als gegenüber jenen aus Syrien oder Afghanistan?

Nein, dafür liegen uns bisher zu wenige Daten vor. Außerdem ist der Vergleich schwierig: Die Aufnahmebereitschaft für Menschen aus Afghanistan wurde von der Politik negativ beeinflusst: Man wollte ja gar nicht, dass viele der aus Afghanistan flüchtenden Menschen nach Deutschland kommen. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul beschränkte man sich darauf, wenige tausend Ortskräfte aufzunehmen. Auch deshalb lassen sich hier nicht einfach Rückschlüsse bezüglich der Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland ziehen. Ein weiterer Faktor: In Deutschland leben etwa 300.000 Menschen mit ukrainischen Wurzeln. Die könnten sich nun natürlich besonders stark engagieren.

In einer SWR-Reportage über die "Bahnhofshelfer" in Mannheim [swr.de] beklagen die Helfer, dass im Vergleich zu der europäischen Flüchtlingskrise 2015 die Hilfsbereitschaft in Deutschland aktuell drei bis vier Mal so hoch sei. Das liege an dem Krieg, der näher gerückt sei - aber auch am Aussehen der Menschen. In der Berichterstattung über den Krieg fiel zuletzt auch immer mal der Begriff der "kulturellen Nähe".

Die geografische Nähe der Ukraine spielt eine Rolle. Die Deutschen fühlen sich selbst jetzt viel stärker bedroht als das während der Konflikte in Syrien und Afghanistan der Fall war. Nicht hinzuschauen ist natürlich viel einfacher, wenn der Krieg weiter entfernt ist. Das ist traurig, aber eine Tatsache.

Uns liegen jedoch noch keine Daten vor, die belegen, dass eine angenommene kulturelle Nähe, sei es aufgrund der Hautfarbe oder der Religion, beim Krieg in der Ukraine tatsächlich ausschlaggebend für die Hilfsbereitschaft der Menschen ist. Ich würde diesen Faktor aber auch nicht ausschließen.

Polen hat sich bisher bei der Aufnahme arabischer Schutzsuchender größtenteils gesperrt. Es harren immer noch Menschen aus dem Nahen Osten in der Kälte an der polnisch-belarussischen Grenze in Zelten aus, eine polnische Stahlmauer soll den Grenzübertritt künftig verhindern. Wie stark beeinflusst Politik eine Gesellschaft, in der Flüchtlingen zum Teil dann doch unterschiedliche Freiheiten eingeräumt werden?

Zunächst einmal ist es sehr gut, dass die Menschen aus der Ukraine problemlos nach Polen und Deutschland kommen können. Denn sie haben allen Grund, vor der Gewalt in der Heimat zu fliehen.

Ich denke aber, dass das Verhalten vieler Politiker die geflüchteten Menschen aus dem Nahen Osten besonders entmenschlicht hat. Denken wir an den EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei, dessen Ziel es war, die Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten. Das Ergebnis ist, dass diese Menschen nun auf griechischen Inseln festsitzen. Oder denken wir daran, wie sich viele Staaten der EU gegenüber Geflüchteten abschotten. Selbst in Deutschland kippte die politische Stimmung, nachdem zunächst 2015 viele geflüchtete Menschen aus Syrien aufgenommen wurden.

Zur Person

Dr. Zeynep Yanasmayan (Quelle: DeZIM)
DeZIM

Zeynep Yanasmayan ist Sozialwissenschaftlerin mit Fokus auf der Migrationsforschung. Zu ihren Schwerpunkten zählen Migrationsbestrebungen, politische Debatten, Regeln sowie Diaspora-Organisationen. Sie leitet die Abteilung Migration im Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) in Berlin.

Die restriktive Flüchtlingspolitik der EU hat sicherlich nicht dazu beigetragen, zwischen einzelnen Geflüchteten keine Unterschiede zu machen und sie stattdessen als das zu sehen, was sie sind: Menschen. Das Wording in den Medien hat ebenfalls einen Einfluss darauf, wie unterschiedliche Gruppen von Geflüchteten gesehen werden.

Ein CBS-Reporter (USA) erklärte den Zuschauern, dass die Ukraine kein Ort wie Afghanistan oder Irak sei, sondern ein "relativ zivilisierter, relativ europäischer Ort". Eine NBC-News-Reporterin (USA) fasste knapp zusammen: "Das sind Christen, das sind Weiße, ähnlich wie die Menschen in Polen." Meinen Sie Aussagen wie diese?

Ja. Das sind sehr ernüchternde und traurige Formulierungen, die ich vorher so auch noch nicht im Fernsehen gehört hatte. Sie sind weder für das Zusammenleben von Nutzen noch dafür, schneller Hilfe zu mobilisieren für Menschen, die vor einem Krieg flüchten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Hasan Gökkaya, rbb|24.

Sendung: Abendschau, 16.03.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Hasan Gökkaya

Nächster Artikel