Ein Monat seit Kriegsbeginn - Wie der Krieg in der Ukraine unsere Region in vier Wochen verändert hat
Vor einem Monat startete Russland die Angriffe gegen die Ukraine. Seitdem sind Zehntausende Geflüchtete in Berlin und Brandenburg angekommen. Was wurde geleistet, wo hapert es noch? Eine Bestandsaufnahme. Von Hasan Gökkaya
Es ist der 24. Februar 2022, als die ersten Panzergeschosse abgefeuert werden und russische Infanterieeinheiten über die Grenze eines souveränen Staates marschieren: Vor genau einem Monat beginnt Russland einen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. Noch immer ist ein Ende der Kämpfe nicht abzusehen - und noch immer flüchten täglich Tausende Ukrainer aus ihrer Heimat nach Berlin und Brandenburg.
Allein die Hauptstadt hat bisher 20.000 Ukrainer untergebracht. In Brandenburg sind es 15.000. Tendenz: steigend. Wie der Krieg ausgeht, ist unklar. Doch bereits heute ist festzustellen, dass er die Region verändert hat, gesellschaftlich wie politisch.
Vom Gewusel im Hauptbahnhof zur "Welcome Hall"
Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung für die ukrainischen Geflüchteten war und ist enorm. Die Dimension zeigte sich besonders in den ersten beiden Wochen nach Kriegsbeginn - und zwar direkt im Berliner Hauptbahnhof. Hunderte freiwillige Helferinnen und Helfer stehen rund um die Uhr bereit, um den aus Zügen und Bussen aussteigenden Menschen sofort zu helfen; sie verteilen Tee, sie übersetzen, sie beantworten Fragen. Die Hilfsbereitschaft ist zeitweise so groß, dass die Deutsche Bahn an ihre Kapazitätsgrenzen stößt. Bereits am 6. März bittet der Konzern Helfer, nicht mehr zum Hauptbahnhof zu kommen und von weiteren Sachspenden abzusehen.
Um das Geschehen im Hauptbahnhof zu "entzerren", kündigen Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) und die Berliner Regierende Bürgereisterin Franziska Giffey (SPD) ein Ankunftszelt für 1.000 Personen an. Tage später wird es aufgebaut, der Name: "Welcome Hall Land Berlin", mitten auf dem Washingtonplatz.
Eine Zeltstadt mit Tausenden Betten gegen die Sorge vor dem Kollaps
Anfangs betont der Senat immer wieder, dass längst nicht alle Geflüchteten, die täglich in Berlin ankämen, auch in der Hauptstadt blieben. Die meisten Menschen sollen in andere Bundesländer gebracht werden - auf Basis des Königsteiner Schlüssels, der zur Verteilung von Asylbewerbern auf die Bundesländer angewandt wird. Allerdings kam der Senat schnell zu der Erkentnis: Eine zunehmende Zahl der Geflüchteten will in Berlin bleiben.
Genaue Zahlen sind schwierig zu erfassen, da Ukrainern ohnehin zunächst ein 90-tägiger Tourismusstatus zusteht. Selbst danach müssen die Menschen aufgrund einer EU-Entscheidung zunächst beispielsweise kein Asylverfahren durchlaufen.
Doch mit jedem Tag, an dem Tausende Menschen die Region erreichen, wird deutlicher: Den freiwilligen Helfern könnte irgendwann die Puste ausgehen - und ohnehin steht der Vorwurf im Raum, dass das Land Berlin die freiwilligen Helfer im Stich lässt, nicht genug mitanpackt.
So folgt auf die "Welcome Hall" das Ankunfts- und Verteilzentrum am alten Flughafen Tegel, wo zudem auch eine reaktivierte Unterkunft bereit steht. Das bisherige Ankunftszentrum in Berlin-Reinickendorf bietet nicht genug Platz. Die Zeltstadt in Tegel soll hingegen bis zu 10.000 Menschen pro Tag registrieren können, bevor es für die Menschen in Berlin weiter geht oder sie in andere Bundesländer gebracht werden.
Die Sorge vor einem Organisations-Kollaps verschwindet damit jedoch nicht: Bei 13.000 bis 15.000 Geflüchteten täglich käme das Land nicht so schnell hinterher, sagt Sozialsenatorin Kipping Mitte März. "Jeder Tag, jede Nacht ist ein Wettlauf der Zahl der Unterkünfte, die neu akquiriert werden und der Zahl der neu Ankommenden." Derzeit können 3.900 Menschen in Tegel kurzzeitig einen Schlafplatz finden, dazu kommen weitere Unterkünfte in ganz Berlin.
Not der Menschen lockt Helfer und Kriminelle an
Das Engagement vieler Freiwilliger sticht während dieser Krise immer wieder hervor. Und es reicht auch einen Monat nach Kriegsbeginn weit über das Spenden von Kleidern, Geld und der Teilnahme an Demonstrationen sowie Friedenskonzerten mit Tausenden Menschen hinaus. Es werden auch private Wohnungen und Zimmer in Berlin und Brandenburg angeboten, um Ukrainer bei sich zu Hause aufzunehmen. Die Berliner Landesregierung empfiehlt eine konkrete Online-Börse [unterkunft-ukraine.de], um Geflüchtete und Berliner zusammenzubringen.
Allerdings lockt die Not der Ukrainer und Ukrainerinnen nicht nur Menschen mit guten Absichten an. Die Bundespolizei warnt vor dubiosen und kriminellen Wohnungsangeboten für ukrainische Frauen. Der Verdacht: sexuelle Ausbeutung, Zwangsprostitution, Menschenhandel. So sollen meist ältere Männer wie echte Helfer Schilder mit Wohn- und Übernachtungsangeboten für ankommende Frauen hochgehalten haben. Zuletzt hat die Bundespolizei aber zum Teil Entwarnung gegeben: Der Eindruck sei, dass derartige Täter, die sich auffällig verhielten, kaum mehr zum Berliner Hauptbahnhof kämen.
Und die Schulen? Auch da ändert sich das gesellschaftliche Bild. In Berlin starten die ersten Willkommensklassen für geflüchtete ukrainische Kinder und Jugendliche. Das Land plant kurzfristig 250 Willkommensklassen mit insgesamt 2.750 Plätzen - so wie beispielsweise in der Humboldt-Gemeinschaftsschule in Prenzlauer Berg. Und auch an den Kitas soll es rund 5.000 Plätze für ukrainische Kinder geben.
Verdi fordert Krisenstab - Cottbus ist wichtiges Drehkreuz
Die Berliner Verwaltung versucht derweil ihren Apparat zu entschlacken, damit zumindest Geflüchtete aus der Ukraine sich in der Stadt nicht mit der Bürokratie anlegen müssen. Um künftig einfacher eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, werden laut Giffey Vorschriften für den Nachweis einer Wohnung gelockert.
Fest steht, dass in Berlin bis heute die meisten Kriegsflüchtlinge ankommen, deshalb fordert der Senat mehrfach stärkere Unterstützung vom Bund und von anderen Bundesländern. Wenn es nach den Personalräten in den Berliner Behörden sowie der Gewerkschaft Verdi geht, ist die Unterstützung sofort notwendig. Denn ohne Hilfe des Bundes werde Berlin nicht in der Lage sein, den Zustrom von Geflüchteten zu bewältigen, sagte die stellvertretende Verdi-Landesbezirksleiterin Andrea Kühnemann am Mittwoch dem rbb. Reserven könnten nicht aktiviert werden, so Kühnemann, da ein jahrelanger Sparkurs der Stadt die Einrichtungen geschwächt habe. Ihre Forderung: Der Senat muss einen gesamtstädtischen Krisenstab einrichten.
Am stärksten entlastet werden die Helfer in Berlin wohl derzeit durch die Unterstützung der Südbrandenburger. Die Stadt Cottbus ist nämlich eines von deutschlandweit drei Drehkreuzen bei der Verteilung von ukrainischen Kriegsflüchtlingen - neben Berlin und Hannover. Laut dem Brandenburger Innenminister Michael Stübgen (CDU) sollen täglich bis zu 1.000 Menschen in maximal fünf Zügen am Cottbuser Hauptbahnhof ankommen. Die meisten Geflüchteten werden anschließend mit Zügen und Bussen in Deutschland und Europa weiterverteilt. Stübgen zufolge wurden bisher landesweit knapp 15.000 Geflüchtete im Land untergebracht.
Betriebe in der Mark stärker betroffen als im Bundesdurchschnitt
In keiner allzu guten Stimmung dürfte derzeit auch Brandenburgs Wirtschaftssektor sein. Dieser ist nämlich deutschlandweit besonders stark von den Folgen des Kriegs betroffen. Acht von zehn Brandenburger Betrieben spüren die Folgen des Krieges in der Ukraine - das ist das Ergebnis einer Schnellumfrage der Industrie- und Handelskammer Potsdam (IHK) zu den Folgen des russischen Angriffs.
Demnach berichten rund 16 Prozent der Unternehmen von einer direkten Beeinträchtigung ihrer Geschäfte durch Sanktionen und Gegensanktionen. Weitere zwei Drittel spüren indirekte Auswirkungen wie steigende Preise und Störungen in der Lieferkette. "Fast 90 Prozent unserer Unternehmen geben an, dass sie die Belastung insbesondere bei den steigenden Energiekosten spüren oder sie mit einer solchen Entwicklung rechnen. Auch höhere Preise für Rohstoffe und Vorleistungen bereiten zwei Drittel der Betriebe Kopfzerbrechen", sagt Carsten Christ, Präsident der IHK Ostbrandenburg.
Und auch die Autofahrer spüren die Folgen des Krieges. Zwar steigen die Preise für Benzin und Diesel bereits seit Monaten, seit Beginn des Krieges Ende Februar hat sich diese Preisentwicklung aber in vorher unvorstellbarem Maße beschleunigt. Von 1,74 Euro kommend pro Liter Super (E10) liegen die Preise bei inzwischen über 2,30 Euro im Tagesschnitt. Auch Diesel kostet inzwischen über 2,10 Euro pro Liter.
Kriegsangst für zu "Hamsterkäufen" bei Speiseöl
Schlechte Stimmung in den Unternehmen und an den Zapfsäulen auf der einen Seite, einige leere Supermarkt-Regale in der Abteilung "Öl" auf der anderen: Da erscheint ein Zusammenhang naheliegend, doch so einfach ist es nicht.
Speiseöle, vor allem Sonnenblumenöl und Rapsöl, sind zwar tatsächlich in einigen Regalen in Berlin und Brandenburg nicht mehr zu finden. Laut Experten liegt dies zumindest im Moment jedoch nicht daran, dass weniger Ware als sonst produziert wird. Vielmehr seien sogenannte Hamsterkäufe Schuld an den leeren Regalen.
Die sind aus der Corona-Pandemie noch bestens bekannt, als zu Beginn viele Leute massenhaft Klopapier kauften und infolgedessen die Regale kurzzeitig leer waren. Damals wie heute kam es allerdings nur zu dieser Situation, weil nicht schnell genug Nachschub aus den Lagern geliefert werden konnte. "Es ist eine Logistikfrage, wenn plötzlich bestimmte Produkte verstärkt abgekauft werden", so Nils Busch-Petersen, Präsident des Handelsverbands Berlin-Brandenburg.
Sendung: Inforadio, 24.03.2022, 12 Uhr