Interview | Katja Kipping zu Russland - "Wir haben uns geirrt"
Mit Russland hat die Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping eine sehr enge, persönliche Beziehung. Nach dem Angriff auf die Ukraine sieht die Linken-Politikerin ihre Partei vor einem politischen Kurswechsel – und warnt vor antirussischen Ressentiments.
rbb|24: Frau Kipping, wann waren Sie das letzte Mal in Russland?
Katja Kipping: Ich war das letzte Mal für wenige Tage in den Herbstferien dort, kurz bevor ich gefragt wurde, ob ich Senatorin hier in Berlin werden möchte. Ich war in Sankt Petersburg und habe dort Theaterstücke gesehen, habe nochmal die Eremitage besucht und bin durch die Stadt gebummelt.
Sie haben in Sankt Petersburg ihr Freiwilliges Soziales Jahr verbracht. Was genau haben Sie damals gemacht?
Direkt nach dem Abitur habe ich gesagt: "Bevor du dich beruflich entscheidest, musst du dich erstmal selbst austesten, die Welt kennenlernen". Ich hatte gedacht, ich mache eine Weltreise. Aus der Weltreise wurde dann ein praktischer Einsatz im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres mit der Initiative Christen für Europa. Die haben mich genommen, obwohl ich konfessionslos bin.
Ich habe in Gattschina, einem Vorort eine Stunde Fahrt mit der Elektritschka (ein Regionalzug, Anm. d. Red) entfernt von Sankt Petersburg gearbeitet, in einem Wohnheim. Das gehörte zu so einer Art Berufsschule für 14- bis 18-Jährige. Meine Chefs waren italienische Mönche des Don Bosco Salesianer Orden und ich glaube, die wollten, dass ich vor allem für Ordnung, Sauberkeit, Moral und Disziplin zuständig bin. Ich hatte allerdings eine andere Vorstellung von meiner Arbeitsplatzbeschreibung, habe mich dafür engagiert, dass es eine möglichst reiche und vielfältige Freizeitgestaltung gibt, dass wir Sachen einstudieren und sie in Heimen für Kinder mit Behinderung aufführen. Das war manchmal ein bisschen konfliktreich, aber es war ein unglaublich schönes und aufregendes Jahr.
Die Konflikte haben Sie dann auf Russisch, Italienisch, Deutsch oder Englisch gelöst?
Am besten in allen Sprachen auf einmal. [lacht] Nein, das war eine ganz zauberhafte Gemeinde. Als ich hingefahren bin, habe ich erstmal angefangen, feministische Kritik an einer katholischen Bibelinterpretation zu lesen, um mich "aufzumunitionieren" für die Auseinandersetzung. Ich glaube, das war auch so aus der Situation heraus geboren: Wenn man in den 1990er-Jahren junge Menschen nach Russland bringen wollte, gab es nur ein paar Andockstellen, da waren die kirchlichen Träger besonders einflussreich.
Russisch sprechen Sie wahrscheinlich noch fließend, oder?
Jetzt muss ich aufpassen. Ich finde mich, wenn ich mich ausdrücken will, immer total unbeholfen. Als ich jetzt in Sankt Petersburg war, habe ich gemerkt, dass ich mir ein Theaterstück angucken und etwas verstehen kann. Ich kann auch auf Russisch fluchen. Aber ich merke immer wieder, wenn ich zum Beispiel mal für einen Podcast politische Fragen auf Russisch beantworten soll, fehlt mir wirklich das Vokabular. Ich würde nicht anmaßend sein: Es reicht für einen Smalltalk, ich kann viel verstehen. Aber wenn sie einen Übersetzer brauchen, weil sie einen Asylantrag stellen wollen, würde ich Ihnen nicht empfehlen, mich als Übersetzerin zu holen.
All diese Fragen über Russland und Ihre persönliche Verbindung zu Russland haben natürlich jetzt einen traurigen, aktuellen Anlass. Wie verfolgen Sie das persönlich, mit ihrer persönlichen Beziehung zu Russland?
Es gibt ein russisches Sprichwort: "Mit dem Verstand kann man Russland nicht verstehen, man kann es nur lieben". Wir haben uns damals als Freiwillige in Russland immer wieder unglaublich geärgert über die Politik der Regierung. Es gab eine Organisation, die auch dort gestartet wurde, als ich da war, die sich um die Situation von behinderten Kindern in den Heimen gekümmert hat - wo es eine ganz schreckliche Politik gab, dass die nur weggeschlossen wurden. Da ist ganz viel erkämpft worden von der Zivilgesellschaft.
Mein erster Redebeitrag im Abgeordnetenhaus nach dem schrecklichen Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine hatte zwei zentrale Botschaften: Wir müssen als Berlin alles tun, um die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine jetzt gut aufnehmen zu können. Und zweitens müssen wir verdammt aufpassen, dass es nicht zu antirussischen Ressentiments kommt. Leider häufen sich die Hinweise, dass jetzt die Empörung und Abscheu gegenüber Putin auch an Menschen ausgetragen wird, die einfach Russisch sprechen oder einen russischen Hintergrund haben. Dem gilt es, sich entgegenzustellen.
In Ihrer Partei wurde viel über Russland gestritten. Sie selbst wurden 2014, bei der damaligen Ukraine-Krise, aus den eigenen Reihen scharf kritisiert, weil sie gesagt haben, Russland sei "kein Musterland der Demokratie" und Putin sei "kein Linker". Das wurde Ihnen zum Vorwurf gemacht.
Ich war ganz froh, dass die Partei dann doch in ihrer Mehrheit ganz klar gesagt hat: Wenn es um Menschenrechte geht, gibt es nicht zweierlei Maß. Und wir sind immer dagegen, dass Bomben geworfen werden. Da unterscheiden wir nicht, von welcher Seite die geworfen werden. Und dass wir kritisch auf Putins Politik schauen. Ich komme ja aus Dresden, da wusste man immer, es gibt noch ganz andere, wirtschaftliche Beziehungen. Aber für die Partei geht es in der Außenpolitik um unsere Glaubwürdigkeit als Friedenspartei. Dass wir da kritisch gegenüber Putins Regierung stehen. Das hat mir nicht nur einen Candystorm beschert, es gab auch den Shitstorm. Russia Today hat mich irgendwann mal als "Nato-freundlichste Abgeordnete" bezeichnet. "Agentin der Atlantik-Brücke" durfte ich mir auch schon anhören im Netz. Aber das nehme ich gerne in Kauf.
Nun, in der aktuellen Krise jetzt setzt ein Umdenken Ihrer Partei ein. Hat die Linke unterschätzt, wie weit Putin gehen würde?
Unterschätzt, wie weit die Aggressionsbereitschaft von Putin geht, haben ganz viele. Wenn man am Dienstagabend die Leute gefragt hätte, wer darauf wettet, dass am Donnerstag ein Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine beginnt, dann hätte sich kaum jemand gemeldet. Ich habe sehr früh Szenarien eingefordert, mit wie vielen Geflüchteten wir rechnen müssen, als sich andeutete, dass sich da etwas zuspitzt. Da war das Worst-Case-Szenario, dass Putin die gesamte Ostukraine angreift. Dass er dann aber das gesamte Land von allen Seiten angreift, hatten ganz wenige auf dem Schirm.
In der Tat, die Situation zwingt der Linken auch eine Entscheidung auf. Ich finde, die ist auch überfällig. Das ist auch ein wichtiger Prozess. Und ich freue mich, dass es viele gibt, die ganz klar sagen: Wir haben uns geirrt. Wir müssen uns hier neu aufstellen, und das ist auch notwendig.
Was heißt das für die Haltung der Linken gegenüber zum Beispiel der Nato? Sie selbst haben 2014 noch die Nato scharf kritisiert, haben dem Bündnis und der EU vorgeworfen, den Konflikt damals verschärft zu haben. Muss da jetzt ein Umdenken einsetzen?
Ich glaube, man muss aufpassen, von welchen Erkenntnissen man spricht. Heute können wir ganz klar sagen: Es gibt einen Aggressor, das ist Putins Regierung. Da gibt es auch nichts, was das irgendwie entschuldigen oder relativieren könnte. Ich meine: Im Gegenzug heißt es jetzt für mich aber nicht, dass man mit wehenden Fahnen so tun muss, als ob die Nato in der Vergangenheit alles richtig gemacht hat. Es gab und gibt gute Gründe, die Nato zu kritisieren. Ich will aber auch klar sagen: Jetzt, in dieser Situation, gibt es nur zwei Botschaften: die ungeminderte Verurteilung von Putins Politik und die ungeteilte Solidarität für alle Menschen, die aus der Ukraine flüchten müssen.
Aber würden Sie heute auch noch die Westbindung der Ukraine anders bewerten? Damals, 2014, waren Sie da durchaus kritisch, auch weil Sie befürchtet haben, dass das die soziale Spaltung im Land vorantreibt und eben nicht im Kampf gegen Korruption und die Oligarchen hilft. Ist auch das heute anders zu bewerten, nachdem die Ukraine jetzt angegriffen wurde?
Was ich damals ausgeführt habe, war durchaus richtig. Die Ukraine ist ein Land, wo es unterschiedliche Orientierungen gibt. Das hat auch was mit wirtschaftlichen Strukturen zu tun: Ein Teil des Landes hatte Handel mit Russland, der andere Teil mit dem Westen. Meine große Sorge war, dass die Fliehkräfte im Land in der Bevölkerung befeuert werden, wenn man dem Land eine Entscheidung aufzwingt. Aber ich will noch mal sagen: Wir reden jetzt in einer anderen Situation. Es gibt heutzutage nur zwei Botschaften, ohne irgendwelche Relativierung: Putins Politik verurteilen und ungeteilte Solidarität für die Geflüchteten aus der Ukraine.
Sie haben die antirussischen Ressentiments angesprochen, die man jetzt spürt. Haben Sie Angst, dass wir jetzt durch diese Aggression der russischen Regierung wieder in Zeiten zurückfallen, von denen wir eigentlich dachten, sie wären vorbei?
Angst ist gar nicht mein Hauptgefühl, sondern mein Gedanke ist: Was können wir jetzt machen? Was können wir in die Wege leiten, um dem entgegenzuwirken? Ich finde, es gibt auch Geschichten, die man einfach weitererzählen muss. Wir hatten diese Woche eine Videokonferenz mit Initiativen, die sich gerade engagieren in der Flüchtlingshilfe, für Menschen aus der Ukraine. Darunter sind auch russischsprachige Organisationen, aus Russland, die sagen: Uns ist es wichtig, den Menschen aus der Ukraine zu helfen. Diese Geschichten sollten jetzt unser Handeln und unser Denken bestimmen. Ich bin demnächst auch bewusst mal in einer orthodoxen Gemeinde, wo Ukrainer und Russen zusammen beten. Genau diese Beispiele gilt es, jetzt zu verstärken.
In Russland demonstrieren Menschen gegen diesen Krieg. Was sollten wir über dieses Land wissen, um Hoffnung zu schöpfen?
Klischees sind immer zu hinterfragen. Ich war auf meiner ersten queeren Party mit transsexuellen Aktivistinnen nicht hier im hippen Berlin, sondern die habe ich in Sankt Petersburg erlebt. Das erste Flugblatt, auf dem der Unterschied zwischen den Begriffen Sex und Gender aus einer feministischen Sicht erklärt wurde, habe ich in Sankt Petersburg damals Ende der 1990er-Jahre gelesen. Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass diese Personen und Strukturen natürlich alle danach massiv bekämpft wurden. Aber in diesem Land ist ganz viel los. Die Bevölkerung ist sehr vielfältig.
Ob es jetzt Hoffnung gibt, dass Putin abgewählt oder abgesetzt wird, und ob die Person, die dann kommt, mehr für Menschenrechte und Demokratie übrig hat, dazu erlaube ich mir kein Urteil. Das kann ich nicht einschätzen.
Aber weil die Zeiten ja auch beunruhigend sind - vor allem, wenn man hört, dass auch Atomwaffen in Bereitschaft gesetzt werden: Es hilft, zu lesen. Ich habe mich in meinem Studium eher mit Tschechow und Tschernyschewski beschäftigt. Aber ich würde für diese Zeiten die Lektüre eines sehr bekannten Berliner Russen empfehlen: Wladimir Kaminer. In seinen Büchern bekommt man nicht nur etwas aus der Sicht eines Russen, sondern man trainiert auch die Lachmuskeln. Ich glaube, auch das muss in diesen Zeiten sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sebastian Schöbel, rbb-Landespolitik Berlin.
Sendung: Inforadio, 03.03.2022, 6 Uhr