Ankunft von Kriegsflüchtlingen in Berlin - Die Freiwilligen vom Hauptbahnhof
Es ist voll im Berliner Hauptbahnhof. Tausende Menschen, die vor der russischen Armee aus der Ukraine fliehen, kommen hier jeden Tag an. Freiwillige empfangen sie, übersetzen, verteilen Tee, helfen bei Fragen und sorgen sogar für Sicherheit. Von Oliver Noffke
Es ist nicht einfach ein zusammenhängendes Gespräch mit Stanislav Mikhaylov zu führen. Denn er trägt eine orange leuchtende Weste. Diese signalisiert: Ich spreche Ukrainisch oder Russisch. Im Gewusel des Berliner Hauptbahnhofs ist die Weste ein leicht erkennbares Zeichen. Alle drei bis vier Minuten wird Mikhaylov angesprochen. Zwei Frauen in dunklen Parkas wollen wissen, wie sie ihren Zug finden. Sie wirken überfordert, entschuldigen sich immer wieder, weil sie Fragen doppelt stellen. Alles gut, versichert der Helfer. Mit freundlicher Stimme wiederholt er alles so oft, bis die beiden beruhigt weiterziehen.
Mikhaylov ist einer von Hunderten Freiwilligen, die derzeit Geflüchtete aus der Ukraine in Empfang nehmen. Er steht am Gleis, wenn ein Sonderzug aus Polen ankommt. Er spricht im düsteren Untergeschoss der Haupthalle Menschen an, die etwas verloren wirken. Er wird um Übersetzungen gebeten, wenn Freiwillige in neongelben Westen nicht weiterwissen. Das sind Helferinnen und Helfer, die sich schlicht ein Herz gefasst haben und hier sind, obwohl sie keine ausreichenden Sprachkenntnisse haben. Neongelb ist deutlich in der Überzahl gegenüber orange.
Kleine Koffer aus der Heimat
Seit 20 Jahren lebt der Komponist Mikhaylov in Berlin. "Ich bin Russe, und ich muss einfach etwas machen." Die Nachrichten über den Krieg zu verfolgen, habe ihn arg deprimiert. "Ich bin zwei Telegram-Channeln gefolgt, auf denen direkt aus dem Kriegsgebiet berichtet wird. Völlig ungefiltert. Ultraheftig." Sich das anzusehen, sei ein riesiger Fehler gewesen, sagt Mikhaylov. "Danach dachte ich, ich muss jetzt etwas Positives unternehmen."
Die Geflüchteten würden ihn vor allem nach Fahrkarten, Essen und Hygieneartikeln fragen oder wie sie sich bei den Behörden registrieren können. "Wenn ich irgendwas nicht beantworten kann, schicke ich die Leute zu unserer Information hier. Das aktualisiert sich ja auch jede Stunde." Am häufigsten werde jedoch nach Unterkünften gefragt, sagt Mikhaylov. "Niemand weiß, wo er landet." Er selbst lebe zwar in einer Einzimmerwohnung, dennoch habe er bereits einen Bekannten aus der Ukraine aufgenommen. Dann muss er weg - eine Frau in gelber Neonweste braucht Übersetzungshilfe.
Der Strom der Ankommenden hat in den vergangenen Tagen stetig zugenommen. Hunderttausende fliehen vor Putins Bomben aus ihrer Heimat. Menschen, die vor etwa drei Wochen noch ein normales Leben hatten, ein Haus, eine Arbeit, Hobbys, Freunde. Nun kommen sie mit kleinen Koffern in Berlin an. Viele haben ihre Ehemänner oder Söhne zurücklassen müssen. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen. Viele, die seit Jahren in Westeuropa leben, zieht es nun sogar zurück, um die alte Heimat gegen russische Truppen zu verteidigen. Dennoch kommen mittlerweile täglich mehr als 7.000 Menschen in Berlin an.
Verdeckte Detektive für die Spielecke
Das erste Untergeschoss des Hauptbahnhofs wirkt wie der Eingang eines Bienenstocks. Ein steter Strom an Menschen schiebt sich von den Treppen in eine der hintersten Ecken. Es ist düster, es zieht. Unten die Gleise und normale Reisende; darüber Stimmengewirr und improvisierte Hilfsangebote. An einigen Tischen werden Zugtickets verteilt, Informationen zu Verbindungen herausgegeben. An anderen werden neue Freiwillige eingewiesen. Es gibt eine Bettenbörse, Informationen für queere Menschen und ein blickdichtes Gartenzelt, in dem Frauen ihre Säuglinge geschützt stillen können.
Zwischen einigen Glaswänden liegt Spielzeug auf dem Boden. Tische stehen dort, an denen Kinder malen, auf anderen ist bunte Kinderkleidung aufgestapelt. Tamara Cycman hat diese Spielecke ins Leben gerufen. "Wir haben Stifte und Papier mitgebracht, damit die Kinder sich mal mit etwas beschäftigen können und ihre Mütter sich mal kurz ausruhen können." Für die Deutsche Bahn und die Berliner Behörden hat sie nicht sehr viele lobende Worte übrig. "Wir haben nachts Decken an schlafende Frauen ausgegeben und dann kam gleich jemand und wollte die wieder einsammeln - Brandschutz", sagt Cycman. "Diese Bürokratie, diese Langsamkeit, dieses Blablabla, dafür habe ich wirklich keine Nerven. Wenn hier jemand mit Gründen kommt, warum nicht geholfen werden kann, packe ich das lieber selbst an."
Oft geht in dem Gewirr aus Menschen die Übersicht verloren, sagt Cycman. Dass die Polizei den Bahnhof zwar patrouilliert, aber nicht dauerhaft Beamte in der Nähe dieser Anlaufstelle abstellt, besorgt sie. "Wenn hier etwas passiert, brauche ich sofort jemanden, der einschreitet. Nicht erst in 20 Sekunden. Das dauert zu lange." Nachdem – unter anderem – ein Mann vorbeikam, der müden Müttern Seifenblasen ins Gesicht gepustet und sich zu deren Kindern getellt hatte, ist sie auch zu einer Art Security-Managerin geworden. "Wir haben einen privaten Sicherheitsdienst engagiert. Hier stehen jetzt gut erkennbare Aufpasser", so Cycman. "Es gibt aber auch eine Reihe von Detektiven, die hier undercover ihre Runden drehen. Leute, die denken, sie könnten herkommen und das Leid dieser Menschen ausnutzen, sollen sich gar nicht erst sicher fühlen."
Es wirkt chaotisch, aber es scheint zu funktionieren - dank der Freiwilligen
Ukrainer dürfen visafrei 90 Tage in der EU verbringen. Doch was machen sie dann? Weder Banken noch Wechselstuben tauschen ukrainische Hrywnja in Euro. Wer auf Sozialleistungen angewiesen ist, soll sich bei den Sozialämtern in den Bezirken melden, so die zuständige Senatsverwaltung. Ohne Termin geht allerdings nichts. Und welches der zwölf Ämter ist zuständig, wenn noch gar kein finaler Aufenthaltsort feststeht? Was geschieht in der Zwischenzeit? Für viele Freiwillige sei diese Ungewissheit angesichts des Leids nur schwer zu ertragen, sagt Cycman. "Ich passe mittlerweile sehr darauf auf, dass sich die Frauen, die mit mir hier arbeiten, nicht übernehmen", sagt sie.
Nahezu die gesamte Organisation innerhalb des Bahnhofs wird von Menschen gestemmt, die zum Teil spontan auftauchen. Manche laufen mit freundlichem Blick durch die Halle, andere wie ferngesteuert, wirken abgeschlagen. Die meisten haben sich vor ihrem Kommen über Gruppen in sozialen Netzwerken angemeldet. Sie stehen dann am Gleis, wenn wieder ein Sonderzug ankommt; sie sprechen Menschen an, die orientierungslos wirken; sie weisen den Weg zur nächsten Toilette, besorgen Kaffee oder Windeln oder zeigen, wo ein großer Kommunikationskonzern kostenlos Sim-Karten ausgibt. Sie bringen Familien zu den oberen Gleisen, wo die Züge nach Köln oder Amsterdam abfahren. Es wirkt an manchen Stellen chaotisch. Aber es scheint zu funktionieren. Trotz aller Widrigkeiten.
"Die Menschen, die jetzt ankommen, sind viel erschöpfter"
Seit einigen Tagen steht vor dem Bahnhofsgebäude ein weißes Zelt. Groß wie eine Turnhalle. Darin können sich die Geflüchteten für ein paar Stunden zurückziehen. An Biertischen sitzen Mütter. Sehr viele junge und erschöpfte Mütter. Ein Feld aus blaugrünen Augenringen, aus dem kleine Nebel aus Kaffeebechern aufsteigen. Neben den Frauen stehen blasse Kinder, die ins Leere schauen. Andere nagen glücklich an großen Gurkenstücken, während sie sich parallel Schokoladenweihnachtsmänner in die Münder stopfen.
Überall stehen Koffer im Handgepäckformat. Sowie jede Menge vergitterte Kisten, in denen die Umrisse von dünnen Katzen und Hunden zu erahnen sind. Alte Menschen sind viele da. Einige sitzen in Rollstühlen. Aber nur wenige Männer sind zu sehen, Jungen im Teenageralter fehlen nahezu komplett. Trotz der vielen Kinder ist es relativ ruhig in dem Zelt. "Wer vor einer Woche kam, hat noch gar keine Bombardements und keinen Beschuss erlebt", sagt Barbara Breuer von der Stadtmission. "Ich glaube, die Menschen, die jetzt ankommen, sind viel erschöpfter, waren länger auf der Reise und sind auch traumatisiert, von ihren Erlebnissen."
Breuer sei nicht nur von den Schicksalen der Mütter ergriffen, sagt sie, sondern auch von denen vieler junger internationaler Studenten. Günstige Lebenshaltungskosten, westliche Standards. Mittelklassefamilien aus Ländern wie Pakistan, Kenia, Iran oder Indian haben ihre Söhne und Töchter in den vergangenen Jahren gern in Universitätsstädte an Dnepr, Dnister oder Donau geschickt. Viele wurden erst vom Krieg überrascht und erlebten dann rassistische Zurückweisungen auf der Flucht. "Die sind jetzt hier gestrandet, die wollten eigentlich zu Ende studieren", sagt Breuer.
Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse von der SPD ist vorbeigekommen. Sie sorgt sich um Kinder, die ohne Eltern ankommen. "Ich bin ganz ergriffen von so viel Leid", sagt sie. Täglich kämen vier bis sechs unbegleitete Minderjährige in Berlin an, flüstert eine Mitarbeiterin der Senatorin. Manchmal seien es aber auch dreimal so viele. Für sie ist der Kinderschutzbund in dem Zelt vertreten. Für alle sei das eine Herausforderung, sagt Busse: "Niemand, nicht Sie, nicht ich, ist auf so etwas vorbereitet gewesen." Nun müsse das System der Aufnahme Stück für Stück verbessert werden.
Das Zelt reicht schon lange nicht mehr aus
Eine weitere Mitarbeiterin Busses hat Spielzeug mitgebracht. Sie legt es in der Kinderecke ab. So wird ein blauer Teppich bezeichnet, auf dem kleine Holzmöbel zwischen Krümeln und Papierfetzen stehen. Auf den ersten Blick wirkt es trostlos. Die Illusion von Gemütlichkeit zwischen Aluminiumträgern und grellweißen Zeltplanen. Die Wand hinter der Spielecke entzerrt diese Perspektive wieder. Herzen, Blumen, ukrainische Flaggen gekritzelt von kleinen Händen. Für viele Kinder mag dieser Ort der erste sein, an dem sie angstfrei spielen können. Die Erwachsenen um sie herum waren tagelang im Ausnahmezustand. Jetzt sitzen sie mit runden Rücken auf den Bierbänken, als hätte man Luft aus ihnen abgelassen.
Durch das Zelt habe sich die Situation im Bahnhof deutlich entzerrt, sagt Barbara Breuer von der Stadtmission. "Es ist hier hell, es ist hier warm. Das ist alles ganz anders als unten an den Gleisen." Essen, trinken, ausruhen, bevor es ins Ankunftszentrum nach Reinickendorf weitergeht. "Das Zelt ist für die gedacht, die eine Nacht in Berlin bleiben wollen oder müssen." Schnell sei allerdings klar gewesen: Ein Zelt reicht nicht. Seit Freitag ist bekannt, dass auf dem Europaplatz, auf der anderen Seite des Bahnhofs, ein zweites aufgestellt werden soll.
In der Haupthalle des Bahnhofs versorgen drei Sanitäter einen Mann, der nicht mehr recht laufen kann. Er kauert an einer der Glasröhren, durch die hier die Fahrstühle schweben. Sein Gesicht wirkt wie leergesaugt. Weder Kraft noch Farben sind darin zu erkennen.
Eine schmale Frau mit schneewittchenschwarzen Haaren steht bei der Szene. Kim Katya trägt eine orangene Weste. "Ich und mein Mann haben einen Urlaubstag genommen, um zu helfen." Ihre Augen werden glasig. Die Situation sei schrecklich, sagt sie. "Meine Eltern sind in Russland, ich habe Angst." Das sei jetzt aber auch etwas egal, sagt Katya, es geht um die Ukrainer. "Es ist etwas ganz Schlimmes passiert, und man muss jetzt einfach hier mitmachen." Einer der Sanitär tippt ihr auf die Schulter. Kim Katya soll etwas übersetzen.