Lesung | Ljudmila Ulitzkaja im LCB - "Wir müssen diesen eskalierenden Krieg stoppen"
Vor einigen Tagen hat Ljudmila Ulitzkaja Moskau verlassen und ist in ihre Berliner Wohnung gezogen. Im Literarischen Colloquium hat sie über Politik, die Verantwortung von Intellektuellen und Solidarität von unten gesprochen. Von Nadine Kreuzahler
"Wir müssen diesen eskalierenden Krieg stoppen" - das hat Ljudmila Ulitzkaja am 24. Februar in einem Statement geschrieben, an dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Sie hat es in Russland geschrieben.
In normalen Zeiten stünde die Literatur Ljudmila Ulitzkajas an so einem Abend im Vordergrund. Der neue Erzählband "Alissa kauft ihren Tod" ist vor kurzem erschienen, und die Geschichten, die sie darin über den Alltag der Menschen im heutigen Russland und der untergegangenen Sowjetunion erzählt, stünden im Mittelpunkt.
Aber die Schatten des Krieges sind zu groß, als dass sich über Literatur reden ließe. Und so rutscht die angekündigte Lesung ganz ans Ende des Abends und gerät sehr kurz. Dafür signiert Ljudmila Ulitzkaja geduldig und warm lächelnd Exemplare ihres Erzählbandes, der vor kurzem auf Deutsch erschienen ist in der Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt. Mit ihr arbeitet Ulitzkaja schon seit ihrer ersten deutschen Veröffentlichung in den 90er Jahren zusammen. Braungardt sitzt an diesem Abend dicht neben der Schriftstellerin mit den kurzen grauen Haaren und dolmetscht für sie und fürs Publikum.
Eine Illusion ging am 24. Februar zu Ende
Ljudmila Ulitzkaja soll Moskau auf Drängen ihrer Söhne verlassen haben, die in Israel und England leben. Die Schriftstellerin ist nun nach Berlin-Pankow gezogen, wo sie schon seit Jahren eine Wohnung hat. Im Gespräch mit der Journalistin Elke Schmitter beantwortet Ulitzkaja Fragen nach der aktuellen Lage, zum Beispiel danach, ob sie – wie es Bundeskanzler Scholz in einer Bundestagsdebatte ausdrückte - auch eine "Zeitenwende" gekommen sieht?
"Ja, ich stimme zu", sagt sie, "genauso wie das 20. Jahrhundert mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat, so beginnt das 21. Jahrhundert erst jetzt, es ist so, dass die Zeitenwende mit diesem Krieg vollzogen wurde."
Es sei schon am 24. Februar, dem Beginn der "Spezialoperation", wie der Krieg in der russischen Propaganda genannt wird, klar gewesen, dass Putin die ganze Ukraine angreifen würde.
"Und mir wurde bewusst, dass meine bisherige Ansicht, dass unsere Generation großes Glück gehabt hat, weil wir im Krieg oder nach dem Krieg geboren wurden und dann aber ohne Krieg aufgewachsen sind, und unser Leben ohne Krieg verbringen und auch ohne Krieg sterben würden, dass diese Illusion damit leider zu Ende war."
Jeder Einzelne trägt Verantwortung
Ljudmila Ulitzkaja wurde 1943 im Ural geboren, ihre jüdische Familie hat unter Stalin gelitten. Beide Großväter verbrachten lange Jahre in Gefängnissen und Lagern. Dieser Teil ihrer persönlichen Geschichte ist immer wieder Thema in ihrer Literatur und spiegelt dabei das große Geschehen des 20. Jahrhunderts wider.
Ab und an blitzt im Gespräch auch Persönliches auf. Ljudmila Ulitzkaja erzählt von Eindrücken, die sie am Zentralen Omnisbusbahnhof in Berlin gewonnen hat, von ankommenden Flüchtlingen aus der Ukraine, und Helfern vor Ort, sie spricht von einer Solidarität "von unten", privat organisierter Hilfe, die es in Russland notwendigerweise immer hatte geben müssen. Intellektuelle sieht sie nicht mehr in der Verantwortung als alle anderen Menschen auch.
"Jeder Mensch hat einen Radius, der ist für jeden unterschiedlich", sagt sie. Und ans Publikum direkt adressiert: "Für mich scheint er groß zu sein, Sie sind ja sehr zahlreich gekommen, aber jeder Mensch hat die Möglichkeit, etwas zu erreichen in seinem Umfeld, so groß oder klein es sein mag. Das ist seine Verantwortung".
Die letzte Beichte
Grundsätzlich habe sie gerade das Gefühl, dass eine Zeit der sehr großen persönlichen Verantwortung für die Menschheit angebrochen sei, für jeden Einzelnen.
"Wenn ein christlicher Mensch schwer krank ist, dann ruft man einen Priester für die letzte Beichte, und ich habe im Moment das Gefühl, dass wir alle uns vor diesem Moment der letzten Beichte befinden. Das betrifft jetzt nicht jeden Einzelnen, sondern die Menschheit insgesamt. Vor dem Angesicht dieses möglichen Endes für uns alle werden unsere Taten deutlicher sichtbar, wo wir falsch handeln, aber auch wo wir unsere Menschlichkeit bewahren."
Nichts, was gerade noch galt, sei noch sicher. Begriffe wie Freundschaft oder Liebe hätten sich plötzlich verändert oder umgekehrt. Plötzlich verändere sich für sie in ihrem hohen Alter noch einmal alles.
Keine deutlichen Worte
Wer erwartet hat, Ljudmila Ulitzkaja würde erneut, wie in ihrem Statement am Anfang des Angriffs, deutliche Worte aussenden, den Krieg nochmals scharf verurteilen oder Putin, wurde eher enttäuscht. Wer aber gut zuhörte, konnte eine 79-jährige Frau erleben, die gerade ihr Land verlassen hat und nicht weiß, ob dies nun für immer ist. Eine Frau, die das Schlimmste von diesem Krieg für die ganze Menschheit befürchtet, aber trotz allem noch hofft.
"Immer wenn Menschen miteinander verhandeln“, sagt sie, "Männer, die mir wenig sympathisch sind, mit anderen Männern, die mir auch wenig sympathisch sind zwar, aber wenn sie an einem Tisch sitzen und verhandeln, dann ist das wichtig und gut."
Der Dokumentarfilm "Berühmt und unbequem – Ljudmila Ulitzkaja" ist bis zum 13.06.22 in der ARTE Mediathek zu sehen.
Das Buch "Alissa kauft ihren Tod". Erzählungen, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, ist im Hanser Verlag erschienen.