Zwischen "Rechtskreiswechsel" und Wohnungsnot - Wie Berliner Behörden die Versorgung der Ukraine-Flüchtlinge bewältigen
Seit 1. Juni sind nicht mehr die Sozialämter, sondern die Jobcenter für ukrainische Kriegsflüchtlinge zuständig, jedenfalls für die meisten. Der Wechsel scheint geklappt zu haben - doch Herausforderungen bleiben. Von S. Schöbel und F. Hoppen
Für Julia Kolupaiewa ist es das erste Beratungsgespräch im Köpenicker Jobcenter. Die Kinderärztin ist vor drei Monaten aus dem ukrainischen Charkiw geflüchtet und will so schnell wie möglich ihren Beruf in Berlin ausüben. Sie hat eine dicke gelbe Mappe mitgebracht. "Das ist meine dritte Mappe, die ich in Deutschland gekauft habe, und die ist auch schon voll" sagt sie und lacht. "In der Ukraine hatte ich mein Leben lang nur eine."
Auf die Kindergastroenterologin aus Charkiw wartet viel Bürokratie: Übersetzungen ihrer Zeugnisse, beglaubigte Kopien, Fach-Deutschkurse. Bis sie sich auf Jobs bewerben kann, wird es Monate dauern - mindestens sechs, rechnet sie vor. Dann erst sind die Sprachkurse absolviert. Aber Kolupaieva betont: Für die Hilfe vom Jobcenter ist sie dankbar.
Arbeitsvermittlerin Franziska Raufeisen wird sie dabei begleiten. "Natürlich ist die Sprache ein Hemmnis, das kann man nicht wegreden", sagt sie. Gut 90 Prozent der Ukraine-Geflüchteten sprechen nach Angaben des Jobcenters weder Deutsch noch Englisch. Meistens sei Russisch gefragt. Im Jobcenter stehen deshalb 27 Sprachmittler zur Verfügung, zur Not gibt es eine Dolmetscher-Hotline. Viel muss erklärt werden, zum Beispiel warum das Jobcenter Ukrainern ohne Konto kein Bargeld gibt, sondern einen DIN-A-4 Zettel mit Barcodes. Diese können in Supermärkten und Drogerieketten an der Kasse gegen Geldscheine eingelöst werden, heißt es. Die Zettel sind für etwa 24 Stunden gültig. Bei bestimmten Supermärkten und Drogerien lassen sie sich an der Kasse gegen Geldscheine austauschen.
"Rechtskreiswechel" seit 1. Juni
Iulia Kolupaieva gehört zu den vielen ukrainischen Kriegsflüchtlingen, die seit 1. Juni vom "Rechtskreiswechsel" in der deutschen Flüchtlingsbetreuung betroffen sind: Bisher waren die Sozialämter für sie verantwortlich, nun sind es die Jobcenter. Das heißt: Mehr Beratungsangebote und höhere Leistungen, nämlich Hartz-IV-Sätze nach dem Sozialgesetzbuch II. Darauf hatten sich Bund und Länder Anfang April verständigt. Das soll auch die Sozialämter entlasten, vor denen sich zuletzt besonders in Berlin teils lange Schlangen bildeten.
Es sind viele neue Kundinnen und Kunden, die seitdem zu Beraterinnen wie Franziska Raufeisen kommen: Allein in Treptow-Köpenick seien es bislang 870 gewesen. Überstunden machen sie und ihre Kollegen trotzdem keine. "Nein, wir haben das gut strukturiert", sagt sie und lacht. "Alle packen mit an."
Nach Umstellung auf Jobcenter: Mehr Leistungen für Geflüchtete
Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping hatte den Wechsel der Betreuung zu den Jobcentern lange gefordert und zeigt sich nun zufrieden. Die Entlastung in Sozialämtern werde erst langsam spürbar werden, sagte die Linken-Politikerin dem rbb. Zudem benötigen die Geflüchteten nach der Bewältigung der akutesten Anfangsprobleme - besonders der Unterkunft und Verpflegung - inzwischen deutlich intensivere Betreuung, sagte die Linken-Politikerin. "Jetzt dauert jedes Gespräch, jeder Termin, deutlich länger, weil die Probleme auch detaillierter werden und mehr Aufwand brauchen." Gänzlich von der Verantwortung entbunden seien die Sozialämter auch in Zukunft nicht, sie würden weiterhin "mindestens 20 Prozent" der Geflüchteten betreuen, unter anderem wenn es um die Grundsicherung im Alter geht.
Dennoch verbessere sich vor allem für die Mehrheit der Geflüchteten die Lage nun spürbar, so Kipping, weil sie Anspruch auf höhere Leistungen hätten. Wichtig sei allerdings, dass die deutsche Bürokratie keine unnötigen Hürden aufbaut, etwa wenn Geflüchtete nicht sofort alle notwendigen Informationen liefern können oder Verhältnisse ungeklärt sind. "Es muss sichergestellt sein, dass die bedürftigen Ukraine-Geflüchteten auf jeden Fall entsprechend Sozialleistungen bekommen."
Registrierung ist Schlüssel zu sozialer Absicherung
Voraussetzung für die Leistungen ist allerdings, dass sie die Geflüchteten registrieren lassen. Das sei wichtig, so Kipping, damit die Menschen eine Arbeitserlaubnis, eine Krankenversicherung und eine Wohnkostenübernahme erhalten können. Dass Menschen die Registrierung meiden, weil sie befürchten, doch noch in andere Bundesländer verteilt zu werden, sei nachvollziehbar - aber letztlich der falsche Weg, so Kipping. "Wer Geflüchteten jetzt rät, lieber unregistriert zu bleiben, damit sie weiter in Berlin bleiben können, berät sie auch in ein großes Risiko hinein."
Rund 280.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind laut Sozialverwaltung bislang nach Berlin gekommen. Viele von ihnen sind inzwischen in andere Bundesländer weitergereist. Wie viele in Berlin geblieben sind, weiß niemand genau: Das Land Berlin hat laut Sozialverwaltung mehr als 55.000 Menschen selbst untergebracht, sowohl temporär als auch längerfristig. Eine deutlich größere Anzahl von Menschen aber ist privat untergekommen.
Die nächste Herausforderung: Wohnraum
Dass zuletzt spürbar weniger Flüchtlinge aus der Ukraine in Berlin angekommen sind, will Kipping allerdings nicht als Zeichen der Entspannung werten. Zwar kämen derzeit täglich nur noch rund 500 Personen pro Tag in Berlin mit Zug oder Bus an. Das sind deutlich weniger als in den Anfangsmonaten der Krise, als an einigen Tagen bis zu 10.000 Menschen ankamen. Allerdings werde die Gruppe der Geflüchteten in Berlin auch nicht kleiner, so Kipping, und die Situation bleibe wegen des unklaren Kriegsverlaufs und neuer politischer Entwicklungen im Hauptaufnahmeland Polen kaum planbar. Dort wurde zuletzt beschlossen, die Leistungen für Geflüchtete stark einzuschränken. "Man kann hier jetzt wahrlich nicht die große Entspannung ausrufen."
Derweil steht Berlin längst vor der nächsten Herausforderung: Wohnraum für ukrainische Kriegsflüchtlinge, die langfristig in Deutschland bleiben. In der Sozialverwaltung bereite man sich schon darauf vor, dass viele der spontanen, privaten Unterbringungsangebote nicht dauerhaft aufrechterhalten werden können. "Diese Sorge begleitet mich von Anfang an", so Kipping. Gemeinsam mit der Bauverwaltung will der Senat nun vor allem mit modularen Unterkünften Wohnraum schaffen. Diese können wegen einer Ausnahmeregelung auch ohne Baugenehmigung errichtet werden.
In Berlin haben seit Beginn des Krieges rund 19.000 Berlinerinnen und Berliner bislang 35.000 Betten in ihren Häusern oder Wohnungen angeboten. Die Nachfrage bleibe konstant, sagt Verena Papke von der Schlafplatzvermittlung Unterkunft-Ukraine. "Es registrieren sich derzeit pro Tag etwa 60 bis 70 Geflüchtete neu auf der Plattform", dem stehe ein Angebot von insgesamt rund 5.000 Betten gegenüber. Allerdings suchen Geflüchtete in der Regel zwei oder mehr Betten, denn häufig treten Frauen mit ihren Kindern die Flucht an. Freiwillige in Berlin aber bieten häufig nur ein Bett an. Verena Papke kritisiert zudem, dass Geflüchtete durch die Registrierung an bestimmte Kommunen gebunden seien. "Bundesweit gesehen führt die Wohnsitzauflage dazu, dass privat angebotene Unterkünfte ungenutzt bleiben, da Menschen nach ihrer Registrierung an einem bestimmten Ort nicht mehr umziehen, sondern sich dort eine Wohnung suchen müssen, wo sie sich registriert haben."
Wechsel zu Jobcentern erfolgreich angelaufen
Doch egal ob private Wohnung oder modulare Unterkunft: Den Weg zu den Jobcentern werden die allermeisten Kriegsflüchtlinge antreten. Dort hielt sich der Andrang zunächst in Grenzen, sagt Monika Bunge, Geschäftsführerin des Jobcenters Treptow-Köpenick. "Es sind weniger gekommen, als wir gedacht haben." Das liege vermutlich daran, dass noch nicht alle Betroffenen ihre Aufenthaltsgenehmigung haben. Doch das werde nicht so bleiben, vermutet Bunge. "Wir sind schon im Gespräch mit der Bundesagentur für Arbeit und dem kommunalen Träger, dass wir auch einstellen können.“ Auf Dauer rechnet Bunge mit zehn Prozent mehr Kundschaft als sonst. Trotzdem fällt auch ihr Fazit bislang positiv aus: Der Wechsel der Zuständigkeit zu Jobcentern wie ihrem in Köpenick habe gut funktioniert.
Sendung: Inforadio, 16.06.2022, 9 Uhr