#Wiegehtesuns? | Ukrainischer Lehrer - "Berlin bedeutet einen sozialen Abstieg. Natürlich wollen wir nach Charkiw zurück"
Im ukrainischen Charkiw betrieb Andrii Tsybukh eine Sprachschule - wegen des Kriegs hat er alles aufgeben müssen. Zusammen mit seiner Frau und drei Kindern lebt er jetzt bei Bekannten in Berlin - geht aber schon wieder seiner Berufung als Lehrer nach.
In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, was sie gerade beschäftigt – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Andrii Tsybukh ist nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine mit seiner Frau und drei Töchtern im Alter von zweieinhalb, zwölf und 15 Jahren nach Berlin geflüchtet. Der 40-Jährige ist Elektroingenieur und Deutschlehrer, auch seine Frau ist Deutschlehrerin. In Charkiw, woher Andrii Tsybukh stammt, hat er alles zurückgelassen: Wohnung, Sprachschule, Auto, Mutter, Freunde, Kolleg:innen.
In Berlin ist die Familie zunächst bei den Kindern von Freunden seiner Schwiegereltern in Rummelsburg untergekommen. Die deutsch-ukrainische Freundschaft besteht schon seit vielen Jahren. Der Ukrainer hat jetzt einen Job als Willkommenslehrer im Max-Planck-Gymnasium in Berlin-Mitte und bringt ukrainischen Schülern Deutsch bei, denn in Berlin wird nach deutschem Lehrplan unterrichtet.
Unterrichten, das war immer meine Berufung. Schon als Student half ich anderen Studenten mit Mathe und Englisch. Als ich die Uni abgeschlossen habe, dachte ich: Jetzt muss ich Deutsch lernen - denn das hat mir gut gefallen. Ich begann nach einem Deutschkurs als Aushilfslehrer. Das hat auch sehr gut geklappt, deswegen habe ich ein zweites Diplom als Deutschlehrer gemacht. Bis heute bin ich begeistert von dem Beruf, davon, dass ich soviel mit Kindern und Jugendlichen zu tun habe.
In Charkiw habe ich zusammen mit meiner Frau eine Sprachschule gegründet. Wir haben Deutsch, Englisch und Französisch dort unterrichtet. Das sind die Sprachen, die in der Ukraine in der Schule gelehrt werden. Wir waren 14 Kollegen, einige sind jetzt in der Territorialverteidigung, andere sind über ganz Europa verstreut.
In Charkiw wird es immer schlimmer. Einige meiner Kollegen haben kein Wasser oder keinen Strom im Haus, kein Internet, manche haben auch kein Brot. Ganz schwierig ist es für die Rentnerinnen, denn ihre Männer verteidigen ihr Land - sie warten auf Freiwillige, die sie versorgen. Das ist nicht so einfach. Denn es wird weiter bombardiert, und es werden auch Menschen entführt, sie verschwinden.
Zuerst sind wir mit dem Auto zum Hauptbahnhof nach Charkiw gefahren, das Auto musste ich dort stehen lassen. Dann sind wir nach Kiew, dann nach Lemberg - da kam eine Bombe, der Zug blieb stehen, denn man wusste, wo die Bombe landet. Das war schrecklich. In Lwiw mussten wir die ganze Nacht auf dem Bahnhof bleiben, dann fuhren wir mit dem Bus über die Grenze nach Polen. Dort wurde uns geholfen. Wir waren einige Tage in Oswiecim, dann kamen wir nach Berlin. Hier sind wir sicher.
Wir leben bei den Kindern von Freunden meiner Schwiegereltern in Berlin-Rummelsburg, im Keller, in der Sauna, aber das ist immer noch besser als in einem Keller in Charkiw. Einmal haben wir 700 Euro vom Sozialamt bekommen. Ich habe für das Sozialamt ausgeholfen als Dolmetscher. Auch jetzt helfe ich Landsleuten, Formulare zu übersetzen, die sie mir per E-Mail schicken. Das mache ich nachmittags.
Vormittags bin ich Willkommenslehrer im Max-Planck-Gymnasium in Berlin-Mitte und unterrichte 14 Schüler aus der Ukraine in Deutsch. Ich bin angestellt als Lehrer, mein Vertrag geht bis Sommer 2023. Ich glaube, es sind Kinder, die - dank ihrer Eltern, auch dank der Hilfe aus Polen und Deutschland - nicht so ein großes Trauma erleben werden, weil sie die Schrecken in der Ukraine nicht erleben.
Mir fehlen die Worte angesichts der Gräuel von Butscha. Auch im Krieg gibt es Regeln. Aber in Butscha, das war einfach nur "wild".
Natürlich bedeutet Berlin einen sozialen Abstieg. In Charkiw hatten wir eine Wohnung, eine Sprachschule, ein Auto. Meine Mutter, Freunde, viele Kollegen sind dort geblieben. Und natürlich wollen wir dorthin zurück. Aber bis dahin können zwei, drei Jahre vergehen. Ich habe keine Pläne, nur die Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende geht.
Gesprächsprotokoll: Stephan Ozsváth
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Sendung: rbb24 Inforadio, 08.04.2022, 16:00 Uhr