Interview | Ukraine-Experte Alexander Wöll - "Es geht um das Überleben der Demokratie weltweit"
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine geht mittlerweile drei Monate. Im Interview mit rbb|24 spricht der Ukraine-Experte Wöll über die aktuelle Situation, Solidarität und mögliche künftige Entwicklung.
Am Dienstag waren es exakt 90 Tage: Der russische Krieg auf das Nachbarland Ukraine bestimmt seit Wochen die Nachrichtenlage. Das werde auch noch lange so weitergehen, meint Alexander Wöll. Der Ukraine-Experte spricht im rbb|24-Interview auch über Gefahren für Deutschland und die Region.
rbb|24: Herr Wöll, kann Russland diesen Krieg gewinnen?
Alexander Wöll: Russland hat schon fast 30.000 Soldaten verloren und wird im Laufe der Zeit durch die Sanktionen nicht mehr in der Lage sein, militärisches Material weiter zu produzieren. Zudem ist es ein Krieg, der sich finanziell nicht lohnt und nie gelohnt hat. Es handelt sich um enorme Verluste in Milliardenhöhe. Aus meiner Sicht wird Russland irgendwann zerfallen. Diesen Krieg über einen so langen Zeitraum mit diesem großen Einsatz kann dieses Land gar nicht mehr durchhalten.
Wie lange glauben Sie wird der Krieg noch gehen?
Das ist schwer zu sagen, da Verhandlungen momentan eigentlich überhaupt nichts bringen. Es kann sein, dass die Ukraine die Krim und auch die östlichen Gebiete wieder zurückerobern will. Das würde sehr lange dauern. Es kann aber auch sein, dass der Status Quo vor dem Krieg wieder erreicht werden soll. Momentan wissen wir nicht, was beide Seiten gerade genau als Kriegsziele definieren.
Sehen Sie keine Chance, diesen Konflikt diplomatisch zu lösen?
Ich glaube, dass es momentan vollkommen unmöglich ist, mit Putin zu verhandeln. Es gibt gar nichts zu sagen – und das ist auch das Schlimmste an dieser Situation. Es scheint mir sicher, dass die russische Seite erst zusammenbrechen muss, bevor überhaupt wieder Verhandlungen geführt werden können. Putin scheint absolut wild entschlossen zu sein, alles was er hat, auf eine Karte zu setzen. Und es wird leider noch Wochen und Monate dauern, bis wir sehen, wie sich das weiterentwickelt.
Könnte sich der Krieg aus Ihrer Sicht weiter ausdehnen - auch über die ukrainische Landesgrenze hinaus?
Putin will die gesamte Küste der Ukraine, damit dahinter ein Failed State (ein gescheiterter Staat, Anm. d. Red.) entsteht, den er dann in Kürze auch noch erobern kann. Jetzt stellt sich die Frage, ob er es über Odessa schafft, Transnistrien mit ins Spiel zu bringen. Gelingt das, würde Moldau, das gar keine Armee hat, wahrscheinlich sofort fallen. Als nächstes käme dann Georgien. Momentan steht auf dem Spiel, dass eben tatsächlich die gesamte Region von Russland erobert wird, falls der Angriffskrieg jetzt nicht gestoppt wird.
Solange der Krieg tobt, bringt er unendlich viel Leid – vor allem für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Sehen Sie deren Moral brechen?
Nein, gar nicht. Einerseits gehen viele wieder zurück – ganz besonders nach Kiew. Die sind auch frustriert, dass sie hier im Westen auch nicht so richtig weiterkommen. Andererseits führt dieser Krieg dazu, dass alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die ich kenne, wild entschlossen sind, diesen Krieg zu gewinnen, weil sie sonst überhaupt keine Zukunftschancen mehr haben. Das hat sich in den drei Monaten auch noch einmal deutlich radikalisiert, während die russischen Truppen ja meistens gar nicht wissen, wofür sie da überhaupt kämpfen. Das ist ein entscheidender Unterschied.
Welchen Eindruck haben Sie, wie die Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden?
Da muss ich sagen, ich bin absolut begeistert. Die Menschen werden hier aufgenommen und unterstützt. Die Bürokratie verhindert zwar, dass schnelle Lösungen gefunden werden. Das ist sehr schwierig. Aber die Zivilgesellschaft agiert vorbildlich.
Es kommt aber auch immer wieder zu Zusammenstößen von pro-russischen und pro-ukrainische Gruppen. Wie beurteilen Sie das?
Das ist sehr schockierend, dass in Deutschland diese fast schon bürgerkriegsartigen Zustände entstehen. Das ist eine ganz neue Qualität von innerdeutschen Auseinandersetzungen, die sich langsam über die Querdenker, die Pegida-Bewegung und dann die Corona-Gegner zu den Putinisten hochstaut. Wir müssen uns darüber Sorgen machen. Da geht es um die Zukunft unserer Demokratie hier in Deutschland und um unser Zusammenleben. In dem Ukraine-Konflikt geht es nicht um die Nation, sondern um das Überleben der Demokratie weltweit, würde ich sagen. Das klingt zwar sehr pathetisch, aber in letzter Konsequenz geht es wirklich darum, ob unser System überleben wird.
Des Gespräch führte für rbb|24 Tony Schönberg.
Sendung: Antenne Brandenburg, Antenne am Nachmittag, 24.05.2022, 15:40 Uhr