Die Katastrophe der Ukraine als Oper - "Ihr habt es nach 100 Minuten überstanden. Für so viele von uns aber gilt das nicht"
Serhij Zhadan ist der bedeutendste zeitgenössische Dichter der Ukraine. Vor drei Jahren wird er mit einem Werk beauftragt, das heute in der Deutschen Oper mit den Themen Krieg, Angst und Sterben die Wirklichkeit widerspiegelt. Von Maria Ossowski
Der Punkmusiker und Aktivist Serhij Zhadan hat vor drei Jahren das Schicksal der mittlerweile acht Millionen ukrainischen Flüchtlinge vorweggenommen - und in ein unendlich scheinendes Klagegedicht verwandelt. "Das Land kämpft für das Recht, in seinen eigenen Grenzen zu bleiben.“ „Hörst Du die Stimmen jener, die es nicht über die Grenze geschafft haben?“ schrieb er in einem Libretto über den Krieg, die Angst, das Sterben.
Zhadan stammt aus dem kriegsgequälten Luhansk
2018 haben die Münchner Biennale und die Deutsche Oper ihn und vor einem Jahr den Komponisten Bernhard Gander mit diesem Werk beauftragt, 2021 destilliert es in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin die Wirklichkeit. Zhadan hat die "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" zwar irgendwo in Osteuropa angesiedelt, aber ganz sicher in der Ukraine, Zhadan stammt aus dem kriegsgequälten Luhansk. Ein Soldat und ein Ganove geraten zwischen die Fronten, sind gefangen, der Soldat soll ausgeliefert werden, der Ganove ebenso. Heimatlos beide, immer auf der falschen Seite.
Tränen laufen übers Gesicht
Dort, auf der falschen Seite, warten auch die Flüchtlinge in ihren Thermodecken, Plastiktaschen und ihren vergeblichen Hoffnungen, über die Grenzen zu gelangen. Keine Chance. Der Soldat in martialischer Darth-Vader-Uniform drängt die Mutter mit Säugling zurück ins Elend. In größter Not fleht die Sängerin eine Zuschauerin in der ersten Reihe der Tischlerei an, das Baby zu retten und drückt es ihr auf den Schoß. Diese Szene ist ohnehin kaum zu ertragen und noch sehr viel weniger, wenn der Zuschauerin dabei die Tränen übers Gesicht laufen.
Zuschauerin tatsächlich geflohen
Hier hat jetzt die Wirklichkeit die Inszenierung überholt. Die Zuschauerin ist mit ihren Kindern tatsächlich geflohen, aus Kiew. Die Realität verschränkt sich mit der Fiktion in einer einzigen Klage, zu einem Requiem auf eine verlorene Identität, eine verlorene Sprache und verlorene Sicherheiten. Sieben Sängerinnen und Sänger geben den Chor der geschundenen Vertriebenen. Die Musik, vom grandiosen Quintett des Ensemble Modern gespielt unter Leitung der Dirigentin Elda Laro, greift die real gewordene Dystopie auf mit rhythmischen, elektronischen Elegien, mit Anlehnungen an Beethoven, mit verzerrter Elektronik.
Hundert Minuten Hoffnungslosigkeit, inszeniert von Alize Zandwijk vor einer Mauer im grellfahlen Licht einer Grenzbeleuchtung. Zeitgenössisches Musiktheater, das so anfasst, so erschüttert, wie es die Rezensentin noch nicht erlebt hat. Von wegen schwerfälliger Opernbetrieb. Nie in der Geschichte des modernen Musiktheaters hat ein Werk so sehr zur gegenwärtigen humanitären Katastrophe gepasst wie dieses. Zudem harrt Zhadan, Jahrgang 74, momentan in Charkiw aus. Er kann das Land nicht verlassen. "Klar, es war sehr hart", so die geflohene Ukrainerin aus der ersten Reihe. "Nur habt ihr es nach 100 Minuten überstanden. Für so viele von uns aber gilt das nicht. Wir oder unsre Liebsten sind mittendrin und wissen nicht, wann es je aufhören wird."
Sendung: Inforadio, 22.05.2022, 8 Uhr