Daten zu hochansteckender Mutante - Welche Probleme die Delta-Variante verursacht - und welche eher nicht

Mo 12.07.21 | 18:30 Uhr | Von Haluka Maier-Borst
Dritte Welle
Bild: rbb|24

Halb so schlimm oder Grund für Alarm? Seitdem die Delta-Variante des Coronavirus auf dem Vormarsch ist, herrscht Unsicherheit. rbb|24 gibt einen Überblick über die Forschung - zur Ausbreitung der Mutante und Wirkung der Impfstoffe. Von Haluka Maier-Borst

Wie sehr ist die Delta-Variante schon verbreitet?

In Deutschland macht die Delta-Variante inzwischen mehr als die Hälfte der bundesweiten Corona-Stichprobe aus. Damit ist Deutschland nur eines von vielen Ländern in Europa, in denen diese Variante die bisherige Alpha-Variante überholt. Das zeigen vorläufige, allerdings nicht repräsentative Daten des Projekts "Covariants" [covariants.org], das sich damit beschäftigt, wie sich verschiedene Corona-Varianten in verschiedenen Ländern ausbreiten.

Trotzdem ist die Lage in Deutschland derzeit (noch) besser als in Großbritannien, Spanien oder Portugal, weil sich die Inzidenz auf deutlich niedrigerem Niveau befindet. Ausbrüche sind also leichter einzudämmen und das Risiko für die Vulnerablen - die Risikogruppen - deutlich geringer. Allerdings zeigt der Blick in andere Länder auch, wie schnell diese neue Variante die Inzidenzen steigen lassen kann.

Was weiß man über die Eigenschaften von Delta und was ist noch unklar?

Als ziemlich gesichert gilt inzwischen, dass sich diese Variante deutlich schneller verbreitet als die Alpha-Variante, englische Forscher und Forscherinnen gehen von ungefähr 50 bis 60 Prozent basierend auf Testdaten aus [khub.net]. Betrachtet man dann noch, dass Alpha auch schon ansteckender war als der Wildtyp, landet man bei einer mehr als doppelt so schnellen Übertragung als beim ursprünglichen Sars-CoV-2-Virus. Zudem gibt es laut einer schottischen Studie erste Hinweise darauf, dass diese Variante ungefähr doppelt so oft zu Hospitalisierungen bei Ungeimpften führt [lancet.com].

Wie gut wirken die Impfstoffe gegen Delta?

In Laborstudien mit Blut von Geimpften zeigt sich, dass Antikörper, die von einer früheren Corona-Infektion oder einer Erst-Impfung mit Astrazeneca oder Biontech/Pfizer herrühren, deutlich schlechter gegen die Delta-Variante wirken als gegen die Alpha-Variante oder den Wildtyp [nature.com]. Bei dieser Untersuchung aus Frankreich muss man allerdings in Betracht ziehen, dass auch sogenannte T-Zellen wichtig bei der Immunabwehr sind, also dass das Verhalten der Antikörper allein nur einer der Indikatoren für die Immunisierung ist.

Ein anderer Hinweis auf eine geringere Wirksamkeit der Impfstoffe gegen Delta basiert auf Daten aus einigen Ländern, in denen Geimpfte sich mit der Delta-Variante infizierten, sogenannte Impfdurchbrüche. Das vermeldete vor allem das israelische Gesundheitsministerium [gov.il]. Hier muss man jedoch die Daten mit Vorsicht lesen, denn es kann gleich mehrere Verzerrungseffekte geben.

Denn nur weil aktuell mehr Geimpfte sich anstecken als in den Zulassungsstudien, muss das nicht heißen, dass die Wirksamkeit gegen Varianten wirklich niedriger ist. Denn in den meisten Ländern gibt es – anders als bei Studien – einen erheblichen Unterschied zwischen der Gruppe der Geimpften und der Nicht-Geimpften. Die zuerst Geimpften sind vulnerabler und älter. Sprich ihre Immunantwort fällt per se schwächer aus und darum auch ihr Immunschutz. Dass also mehr Geimpfte sich anstecken als basierend auf Studien zu erwarten wäre, kann schlicht daran liegen, dass sie anfälliger sind [nytimes.com].

Zum anderen spielt im Fall von Israel möglicherweise auch eine Rolle, dass die ersten Menschen in Israel schon deutlich mehr als ein halbes Jahr hinter sich haben seit der Impfung [ndr.de]. Heißt, dass möglicherweise der Schutz der Impfungen gegen Infektionen bereits abnimmt.

Kreuzimpfung mindestens genauso effektiv

Gleichwohl deutet vieles daraufhin, dass weiterhin schwere Verläufe trotz Delta und vergangener Zeit verhindert werden. Entscheidend scheint zu sein, dass die Menschen, die sich zwei Mal impfen lassen, nach wie vor eine starke Immunantwort zeigen und es äußerst selten zu Krankenhauseinweisungen kommt.

"In unseren Studien haben wir gesehen, dass bei allen Kombinationen nach der zweiten Impfung wir die mit Abstand besten Werte hatten, sowohl was die Antikörperreaktion betrifft als auch die Reaktion der T-Zellen", sagt Martina Sester von der Universität des Saarlandes, die in einer umfangreichen Studie die Immunantwort nach verschiedenen Impfungen untersucht hat. Dabei zeigte sich übrigens auch, dass Kreuzimpfungen mindestens genauso effektiv sind, wie eine doppelte Impfung mit einem mRNA-Impfstoff.

Ähnlich optimistisch stimmen auch die Daten zu den anderen beiden eingesetzten Impfstoffen. Hier liegen bislang keine Studien vor, die Ansteckungen untersuchen, sondern eben nur wie gut die Antikörper im Blut von Geimpften auf verschiedene Varianten reagieren. Sowohl bei Moderna [medrxiv.org] als auch bei Johnson & Johnson [medrxiv.org] scheint die Antikörperreaktion gut genug auszufallen.

Wird die Lage auf den Intensivstationen entspannt bleiben?

Für den Moment ist die Situation auf den Intensivstationen beispielsweise in Großbritannien deutlich entspannter als in der zweiten Welle – und das obwohl die Inzidenz inzwischen auf einem höherem Niveau liegt als vor einem halben Jahr.

Das liegt zum einen daran, dass die besonders gefährdeten Gruppen, also alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen, bereits geimpft sind. Und zum anderen daran, dass die Nicht-Geimpften meist jünger sind und daher selbst bei einer Ansteckung in der Regel einen milderen Verlauf haben.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Intensivstationen das Schlimmste überstanden haben. Sowohl eine Modellierungsstudie für Deutschland vom Robert-Koch-Institut [rki.de] als auch eine Studie vom angesehenen britischen Modellierer Matt Keeling von der Univeristät Warwick für Großbritannien zeigen [medrxiv.org], dass es zu Überlastungssituationen in den Krankenhäusern kommen kann.

Das liegt zum einen daran, dass zwar bei jungen Menschen Krankenhausfälle selten sind, aber die Intensivstationsfälle hochschnellen könnten, wenn sich viele gleichzeitig ansteckten. Zum anderen gibt es Hinweise darauf, dass die neue Variante bei nicht vorhandener Impfung zu mehr schweren Verläufen führt.

Wichtig vor diesem Hintergrund sind vor allem zwei Dinge:

1. Die beiden erwähnten Studien sind nur Szenarien, die modellieren, was passieren könnte, wenn eine Menge Annahmen zutreffen. Dass es genau so kommen wird, ist höchst unwahrscheinlich. Aber sie illustrieren, dass eben keineswegs mit einer Impfquote von über 50 Prozent die Lage entspannt ist.

2. Ab jetzt macht jedes Prozent mehr an Durchgeimpften einen erheblichen Unterschied. Die Zahl der gleichzeitig auf den Intensivstationen zu Behandelnden wird laut RKI-Modellierung ungefähr halbiert, wenn unter den 12- bis 59-Jährigen die Impfquote von 65 Prozent auf 75 Prozent steigt. Das liegt daran, dass bei einer höheren Impfquote auch die Chance steigt, dass zunehmend die Zahl der Neuansteckungen pro Fall exponentiell sinkt.

Ist die Inzidenz noch die richtige Kennzahl?

Die meisten Epidemiolog:innen und Modellierer:innen weisen schon seit Langem dauerhaft darauf hin, dass man nicht nur eine Zahl betrachten soll, um die Lage zu bewerten. Wie gut die Fälle rückverfolgbar sind, wie alt die Menschen sind, in welchem Umfeld sie sich angesteckt haben, ist genauso wichtig. Oder vereinfacht gesagt: Ein Ausbruch mit Dutzenden in einem Schlachthof ist leichter einzudämmen, als dutzende neue Fälle in verschiedenen Orten, bei denen der Ursprung unklar ist. Und natürlich bedeutet die steigende Impfquote wie oben erwähnt, dass man höhere Inzidenzen haben kann, ohne dass die Intensivstationen stark belastet werden. Entsprechend erscheint es logisch, dass das Robert-Koch-Institut wohl weniger sich auf diese Zahl fokussieren will.

Trotzdem sollte man sich nicht vollständig von der Inzidenz als Indikator verabschieden. Zum einen deutet eine rapide ansteigende Inzidenz daraufhin, dass das Geschehen an Fahrt aufnimmt und die Kontrolle zunehmend entgleitet. Zum anderen gibt es auch erste Erhebungen zu Long-Covid nach nicht-schweren Verläufen, die auf erhebliche Gesundheitsschäden deuten. So zeigt zum Beispiel eine Studie des Imperial College in Großbritannien [imperial.ac.uk], dass ein Drittel der Inifzierten über lang anhaltende Beschwerden klagen. Sprich nur weil weniger Leute auf der Intensivstation sind, ist eine Durchseuchung trotzdem nicht wünschenswert.

Außerdem haben die Zahlen auf den Intensivstationen den Nachteil, dass sie mit zwei Wochen und mehr Verspätung erst auf das Infektionsgeschehen reagieren. Man muss also frühzeitig auf Warnsignale achten, weil es dauert, bis eventuelle Anpassungen sich dort zeigen. Es gibt auch die Annahme, dass je mehr Infektionen es gibt, desto eher es zu weiteren Mutationen kommen kann, die neue Probleme verursachen.

Heißt das, dass man Kinder über zwölf Jahren impfen sollte?

Nach wie vor empfiehlt die unabhängige Ständige Impfkommission (Stiko) nicht pauschal die Impfung für Kinder über zwölf Jahren, sondern nur bei Kindern mit Vorerkrankungen. Gleichwohl ist der Impfstoff offiziell von der europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) zugelassen. Und andere Länder wie Israel beginnen bereits mit offiziellen Impfkampagnen [haartez.com]. Wie passt das zusammen? Die Frage ist, worauf man sich fokussiert.

Die Stiko konzentriert sich vor allem darauf, wie oft Kinder und Jugendliche schwer erkranken und ob die Impfungen nicht anderswo sinnvoller genutzt wären. Hier kommt man zum Schluss, dass dies sehr selten ist und außerdem Kinder und Jugendliche einen eher geringen Beitrag zum Infektionsgeschehen haben. Oder im Wortlaut: "Solange noch viele Erwachsene mit deutlich höherem Risiko ungeimpft sind, ist eine Umverteilung der Impfstoffe an gesunde Kinder und Jugendliche epidemiologisch und individualmedizinisch nicht sinnvoll." [rki.de]. Mitnichten spricht die Stiko aber davon, dass das Risiko einer Impfung und der Nebenwirkungen zu hoch sei. Die EMA konnte in den vorgelegten Zulassungsstudien nachvollziehen, dass der Biontech-Impfstoff für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren grundsätzlich sicher ist.

Impfung von Kindern bleibt Individualentscheidung

Experten und Expertinnen aus anderen Ländern argumentieren wiederum, dass vielleicht Kinder nicht Treiber der Pandemie seien. Sie würden aber wohl einen immer noch beachtenswerten Beitrag zum Infektionsgeschehen leisten, wie mehrere von ihnen im Fachjournal "Nature" erklären [nature.com]. Entsprechend sei es vor dem Hintergrund von neuen Varianten und auch einem Limit bei den Impfbereiten durchaus sinnvoll, auch bei Kindern das Potenzial zu nutzen, näher an die Herdenimmunität zu kommen.

Außerdem weist beispielsweise Julian Tang, ein Virologe der Universität Leicester, gegenüber "Nature" darauf hin, dass man mit Impfungen auch dem Virus ein Reservoir abgraben würde. Eines, in dem sich möglicherweise neue Varianten bilden.

Die Impfungen für Kinder bleiben damit also weiterhin eine Individualentscheidung. Aber in die persönliche Abwägung sollte eben nicht nur einfließen, wie oft Kinder schwer erkranken, sondern auch, welchen Effekt eine Impfung gegenüber der gesamten Pandemiedynamik hat.

Wird es ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel aus gefährlicheren Mutationen und Impfungen dagegen?

Hoffentlich nicht. Ja, Viren entwickeln sich immer weiter. Trotzdem gibt es vorsichtige Hoffnungen unter Experten, dass nicht ständig ansteckendere und gefährlichere Varianten des Coronavirus auftauchen werden.

So schrieb der Experte Eric Topol im Fachjournal "Nature" [nature.com], dass es eher so aussehe, dass das Coronavirus nicht komplett den Impfschutz aushebeln kann. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité sieht das ähnlich. In einem Interview mit dem Schweizer Online-Magazin "Republik" [republik.ch] sagte er: "Es gibt aus virologischer Sicht gute Gründe anzunehmen, dass Sars-Cov-2 gar nicht mehr so viel mehr auf Lager hat als das, was es uns bisher zeigen konnte."

Vor diesem Hintergrund sehen viele Expertinnen und Experten die Idee von Drittimpfungen mit Biontech/Pfizer, wie sie in Israel geplant werden, auch eher kritisch. So sagte der Chef der Oxford Vaccine Group Andrew Pollard gegenüber dem British Medical Journal [bmj.com]: "Wir haben Länder, die extrem hohe Infektionswellen entgegensehen bei einer weitgehend ungeimpften Bevölkerung. (...) Bevor wir Drittdosen verabreichen, sollten wir lieber weltweit besonders Gefährdete schützen."

Sendung: Abendschau, 12.07.2021, 19:30 Uhr

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Beitrag von Haluka Maier-Borst

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