Neuköllner Anschlagsserie - Der Neonazi, der "nur Schmiere" gestanden haben will
Im Prozess um die Neuköllner Anschlagsserie müssen sich ab Ende August die beiden Neonazis Sebastian T. und Tilo P. verantworten. Nach Recherchen des rbb und der "Berliner Morgenpost" soll P. in Haft eine Beteiligung an den angeklagten Taten eingeräumt haben. Von Jo Goll und Ulrich Kraetzer
Die Zelle war eng und das Essen gewöhnungsbedürftig – und unter den anderen Gefängnisinsassen war bekannt, dass er als Neonazi galt. Als Tilo P. nach einigen Tagen in der Justizvollzugsanstalt Moabit auf einen Gleichgesinnten traf, auch er ein polizeibekannter Rechtsextremist, dürfte er also erleichtert gewesen sein. Er schüttete ihm wohl sein Herz aus.
In Untersuchungshaft war P. gelandet, weil die Staatsanwaltschaft ihm vorgeworfen hatte, einen Taxifahrer attackiert und rassistisch beleidigt zu haben. Die möglichen juristischen Folgen des Vorfalls schienen Tilo P. in jenen Tagen im November vergangenen Jahres allerdings weniger zu beunruhigen. Denn die Behörden, so berichtete der Neonazi seinem rechten Gesinnungsgenossen, wollten ihm "jetzt auch noch wegen den anderen Sachen was anhängen". P., damals 38 Jahre alt, schien das für ungerecht zu halten. Er habe doch "nur Schmiere" gestanden.
Der Verfassungsschutz hörte mit
Was Tilo P. nicht wusste: Vom Inhalt der Unterhaltung in der JVA Moabit erfuhr offenbar auch der Berliner Verfassungsschutz. Der Nachrichtendienst fasste die Erkenntnisse in einem sogenannten Behördenzeugnis zusammen. Der Inhalt des Dokuments ist rbb24 Recherche und der "Berliner Morgenpost" bekannt. Wie der Nachrichtendienst davon erfuhr, wird darin nicht thematisiert. Der Verfassungsschutz bemühte in der Zusammenfassung den Konjunktiv. Ob die Unterhaltung sich wirklich so zutrug, ist nicht bewiesen.
Als die Ermittler von Polizei und Generalstaatsanwaltschaft das Behördenzeugnis lasen, dürften sie überrascht gewesen sein. Wahrscheinlich waren sie auch hocherfreut. Denn mit den "anderen Sachen" meinte Tilo P., sollte er den Satz tatsächlich so geäußert haben, womöglich eine Serie rechtsextremer Straftaten, an der sich die Ermittler über Jahre die Zähne ausgebissen hatten: die Neuköllner Anschlagsserie.
Die Bemerkung von Tilo P., dass er "nur Schmiere" gestanden habe, deutete zwar darauf hin, dass er sich nicht als Drahtzieher und Haupttäter der Straftaten sah. Der Satz lässt sich dennoch wie eine Art Geständnis interpretieren. So jedenfalls dürften es Polizei und Staatsanwaltschaft sehen.
Prozess beginnt am 29. August
Wie Tilo P. selbst den Satz verstanden wissen will, wollte der Rechtsextremist auf rbb-Anfrage nicht sagen. Er und sein Anwalt lehnten eine Stellungnahme ab. Danach, wie er den Satz tatsächlich gemeint habe, wird er aber sicher schon bald erneut gefragt. Denn ab 29. August dieses Jahres steht er vor Gericht, wie rbb 24 Recherche und die Berliner Morgenpost aus Justizkreisen erfuhren.
Die Neuköllner Anschlagsserie hat nach Einschätzung der Polizei aber ein weitaus größeres Ausmaß: mindestens 70 Straftaten, darunter mehr als 20 Autobrandstiftungen. Die Opfer waren ausnahmslos Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Die offenbar gezielten Attacken nahmen den Betroffenen das Gefühl der Sicherheit, raubten ihnen den Schlaf. Eine Familie kehrte ihrem Neuköllner Heimatkiez aus Angst vor weiteren Neonazi-Angriffen kürzlich sogar den Rücken.
Keine DNA, keine Augenzeugen, keine Tatwerkzeuge
Aus Sicht der Ermittlungsbehörden gleicht die Eröffnung des Gerichtsverfahrens einem Befreiungsschlag. Denn die Polizei hatte Tilo P. und seinen mutmaßlichen Mittäter, den einstigen NPD-Kader Sebastian T., zwar schon früh als Tatverdächtige identifiziert. Doch es fehlten die Beweise. Keine DNA am Tatort. Keine Augenzeugen. Keine Tatwerkzeuge, die sich ohne Zweifel einer der Brandstiftungen zuordnen ließen.
Der Durchbruch gelang erst, nachdem die der Staatsanwaltschaft übergeordnete Generalstaatsanwaltschaft das Verfahren an sich gezogen hatte. Die Dezernenten wälzten die Akten, forderten zusätzliches Material vom Verfassungsschutz an, setzten die Puzzle-Teile der Ermittlungen neu zusammen – bis sich ein aus ihrer Sicht stimmiges Gesamtbild ergab.
Anklage wirft Neonazis zwei Brandstiftungen vor
Die nunmehr zugelassene Anklage wirft Tilo P. und Sebastian T. vor, am 1. Februar 2018 zwei Autos angezündet zu haben: den Peugeot des Buchhändlers Heinz Ostermann, sowie den Smart des Linken-Politikers Ferat Kocak, der seit Herbst vergangenen Jahres dem Abgeordnetenhaus angehört.
Das Gericht hat bis Ende dieses Jahres zunächst zehn Verhandlungstage angesetzt. Womöglich dauert das Verfahren aber deutlich länger. Denn handfeste Beweise enthält die Anklage hinsichtlich der Brandstiftungen nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft stützt sich vielmehr auf eine Kette von Indizien.
Die Ermittler zogen dafür alle Register. Sie observierten die Neonazis, hörten ihre Telefone ab und sicherten Chatverläufe. Sie erwirkten Durchsuchungsbeschlüsse, beschlagnahmten Handys und Computer. Zuletzt hörten sie sogar mit, als die Rechtsextremisten sich im Auto unterhielten.
Jagd auf tatsächliche oder vermeintliche "Linke"
Fügt man die Ergebnisse der Ermittlungen zusammen, ergibt sich ein Bild zweier Extremisten, deren Lebensinhalt darin zu bestehen scheint, Jagd auf tatsächliche oder vermeintliche "Linke" zu machen. Ihre mutmaßlichen Opfer sollen Sebastian T. und Tilo P. demnach systematisch beobachtet, ausgespäht und Informationen in "Feindeslisten" gesammelt haben. Nach bereits vollendeten Angriffen recherchierten sie offenbar, wie die Medien darüber berichteten.
T. und P. waren dabei wohl nicht allein. Sie sollen sich vielmehr auf ein Netz von Rechtsextremisten gestützt haben, die beim Kampf gegen "Linke" und "Kanaken" halfen. So jedenfalls liest sich das Ergebnis der Ermittlungen.
In der Neuköllner Neonazi-Szene bestens vernetzt
Sebastian T. war in dem Duo mutmaßlich die treibende Kraft. In der rechtsextremen Neuköllner Szene war der gebürtige Rudower und einstige Kreisvorsitzende der NPD schon früh bestens vernetzt. T. ist zudem mehrfach vorbestraft, etwa wegen Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Munitionsbesitzes.
Am Neujahrsmorgen 2007 erwischte ihn ein Polizist, wie er einen Stromkasten mit einem Hakenkreuz beschmierte. Sebastian T. beschimpfte den Beamten daraufhin als "Judenarsch" und "linke Ratte". Bei Hausdurchsuchungen fand die Polizei Aufkleber der Neonazi-Parteien NPD und "Der III. Weg", sowie Propagandamaterial mit Huldigungen für den einstigen Nazi-Kader Rudolf Heß.
Das Gericht verurteilte Sebastian T. in zwei Fällen dazu, Haftstrafen abzusitzen. Brandstiftungen, die der Neuköllner Anschlagsserie zugerechnet wurden, registrierte die Polizei während der Haftdauer nicht. Als Sebastian T. wieder auf freien Fuß kam, flammte die Serie dagegen wieder auf.
Der Anführer und sein williger Helfer
Tilo P., so lesen sich die Ermittlungsakten, hatte in dem Neonazi-Duo mutmaßlich die Rolle des willigen Helfers inne. Sebastian T. gab demnach die Richtung vor. Tilo P. marschierte mit.
Das Amtsgericht Tiergarten verurteilte das einstige AfD-Mitglied wegen des Angriffs auf einen Taxifahrer im Februar dieses Jahres zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren. Das Gericht setzte die Strafe zur Bewährung aus. Tilo P. akzeptierte die Entscheidung. Die Generalstaatsanwaltschaft legte Berufung ein. Das Urteil ist daher noch nicht rechtskräftig.
Nun also steht das Gerichtsverfahren zur Neuköllner Anschlagsserie an. Die Ermittlungsakten, auf die sich die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft stützt, lesen sich in Teilen wie das Drehbuch für einen Krimi über akribische Ermittlungsarbeit.
Bilder von "Antifa-Fotografen"
So dokumentierten abgehörte Telefonate und Chat-Nachrichten, dass die Neonazis sich regelmäßig über "Linke" austauschten. Im Oktober 2016 etwa übermittelte P. einem Rechtsextremisten – der seinerzeit für die AfD in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung saß – das Bild eines "Antifa-Fotografen". Wenig später wurde der Betroffene in einer Schmiererei, die an seinem Wohnhaus prangte, indirekt mit dem Tode bedroht.
Sebastian T. zeigte sich den Ermittlungen zufolge als besonders sammelwütig. Er verfügte demnach über eine "Feindesliste" mit Informationen über 584 Personen, darunter Politiker, Pressevertreter und Polizisten. Als Tilo P. ihn im Zusammenhang mit einer "Antifa-Demo" fragte, wie viele Fotos er habe, antwortete Sebastian T., es seien 2.400.
Ihre "linken" Gegner spähten die Neonazis laut Anklage immer wieder auch mit Erkundungsfahrten aus. Im Fokus: Die Wohnanschriften von Personen, deren Fahrzeuge vor oder nach den mutmaßlichen Ausspähfahrten der Neonazis in Flammen aufgingen. Auffällig dabei: Den GPS-Daten zufolge wendete das für die Fahrten genutzte Auto häufig direkt an der Anschrift der Opfer oder kam genau dort kurzzeitig zum Stehen. Die Schlussfolgerung der Ermittler: Die Neonazis waren nicht zufällig an den Anschriften vorbeigefahren. Bei den Fahrten spähten sie vielmehr spätere Anschlagsziele aus.
Weitere Anklagepunkte: Sozial- und Subventionsbetrug
Die Hoffnung der Strafverfolger: Sollte das Gericht die Neonazis nicht wegen der Brandstiftungen verurteilen, könnte es im Fall von Sebastian T. zumindest für Verurteilungen wegen eines ebenfalls angeklagten Betrugs mit staatlichen Transferleistungen und Betrugs mit Corona-Hilfen der Investitionsbank Berlin-Brandenburg reichen. Nach einer Schmiererei im März 2019 konnte ein Polizeibeamter Sebastian T. den Ermittlungen zufolge sogar bei der Sichtung einer Videoaufzeichnung identifizieren. Auch diese mutmaßliche Tat hat die Generalstaatsanwaltschaft zur Anklage gebracht.
Das erweiterte Schöffengericht des Amtsgericht Tiergarten muss nun darüber befinden, ob, und wenn ja, wegen welcher Vorwürfe Sebastian T. und Tilo P. verurteilt werden. Die Betroffenen sehen dem ersten Verhandlungstag mit Spannung entgegen. Jahrelang forderten sie Aufklärung. Jahrelang hatte sich der Eindruck verfestigt, dass die Anschläge ungesühnt bleiben könnten. Ein bitterer Nachgeschmack könnte indes bleiben. Denn die Anklage wirft Tilo P. und Sebastian T. "nur" zwei der mehr als 20 Brandstiftungen vor. Die anderen Taten harren also weiterhin der Aufklärung.
Sebastian T. wollte sich auf Anfrage nicht zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen äußern. Das erklärte sein Verteidiger, der Rechtsanwalt Carsten Schrank. Auch Tilo P. wollte laut seinem Rechtsbeistand Mirko Röder vor dem Prozess keine Fragen beantworten.
"Um jeden Preis ins Gefängnis"
Röder kritisierte aber, dass die Generalstaatsanwaltschaft gegen die vom Gericht verhängte Bewährungsstrafe wegen des Angriffs seines Mandanten auf den Taxifahrer Berufung eingelegt habe. "Hinsichtlich eines etwaigen Einlassungsverhaltens unseres Mandanten muss klar gesagt werden, dass wir sehr irritiert darüber sind", sagte Röder. Die Strafverfolger wollten seinen Mandanten offenbar "um jeden Preis im Gefängnis sehen", sagte Röder.
"Keinen guten Eindruck" mache es, dass die vom damaligen Innensenator Andreas Geisel (SPD) eingesetzte Expertenkommission des einstigen Bundesanwaltes Herbert Diemer und der früheren Eberswalder Polizeipräsidentin Uta Leichsenring verfahrensrelevante Ermittlungen bereits vor dem anstehenden Gerichtsverfahren veröffentlicht hätte. "Im Rechtsstaat entscheidet das Gericht", sagte Röder. Und: "Wir haben keinen Zweifel daran, dass auch hier die Gerichtsbarkeit das letzte Wort haben wird."
Sendung: rbb24 Inforadio, 14.06.2022, 6:30Uhr