Bedrohung durch "NSU 2.0" - Polizei soll Opfer von Neuköllner Anschlagsserie nicht gewarnt haben
Neue Vorwürfe gegen die Berliner Polizei im Fall der rechtsextremen Neuköllner Anschlagsserie: Die Behörde soll es versäumt haben, den Linke-Politiker Ferat Kocak zu warnen - obwohl eine mögliche Gefährdung vorlag. Von Jo Goll und Ulrich Kraetzer
Am 21. März 2019 verschickte ein anonymer Absender eine E-Mail an das Berliner Landeskriminalamt. In der Betreffzeile heißt es: "Bekennerschreiben NSU 2.0". Der Inhalt des Schreibens ist rbb24-Recherche und der "Berliner Morgenpost" bekannt.
Das Kürzel "NSU" spielt auf die rechtsextreme Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" an, deren Mitglieder vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2007 mindestens zehn Menschen ermordeten. Das NSU-Mitglied Beate Zschäpe wurde im Juli 2018 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ein brisanter Vorgang.
Linke-Politiker Kocak als "Volksschädling" diffamiert
Unter dem Absender "NSU 2.0" verschickten Rechtsextremisten ab August 2018 weit mehr als 140 Morddrohungen an Politikerinnen und Politiker, Medien- und Kulturschaffende. Die Drohschreiben hatten bundesweit für Schlagzeilen gesorgt.
In der Mail vom 21. März 2019 an das Berliner LKA behauptete der als "NSU 2.0" firmierende Absender, dass die Gruppe für einen Brandanschlag auf das Auto des Berliner Linke-Politikers Ferat Kocak am 1. Februar 2018 verantwortlich sei. Der "NSU 2.0" übernehme dafür "ausdrücklich die Verantwortung". Kocak wurde in der E-Mail zudem mit dem Nazi-Begriff "Volksschädling" diffamiert. Außerdem nannte der Absender die damalige private Wohnadresse von Kocaks Familie.
Kocak wurde über die Mail vom 21. März 2019 nicht informiert. Auch auf eine "Gefährdetenansprache", also eine Warnung Kocaks vor einer möglichen Gefährdung, verzichtete die Polizei. Dabei war es den LKA-Ermittlern schon lange zuvor bekannt, dass Kocak von Rechtsextremisten bedroht wurde. Der Verfassungsschutz wusste aus abgehörten Telefonaten, dass einschlägig bekannte Neonazis den Linken-Politiker wegen dessen Engagement gegen Rechtsextremismus wiederholt ausgespäht hatten. Auch dem LKA lagen entsprechende Erkenntnisse vor.
Keine Warnung trotz polizeilicher Erkenntnisse
Wie nötig eine frühzeitige "Gefährdetenansprache" gewesen wäre, zeigte sich am 1. Februar 2018: Kocaks Kleinwagen brannte vollständig aus. Der Anschlag wurde mutmaßlich von den beiden Rechtsextremisten verübt, die ihn unter den Augen des Verfassungsschutzes wenige Wochen zuvor ausgespäht hatten.
Doch schon im Vorfeld dieses Anschlags hatten die Beamten darauf verzichtet, Kocak zu warnen. Die Polizei selbst bezeichnete das in einem Bericht zur Aufarbeitung von Ermittlungsfehlern bei der Neuköllner Anschlagsserie als "falsche Entscheidung". Als im März 2019 beim Berliner LKA die Droh-E-Mail des "NSU 2.0" mit der Nennung der Wohnanschrift von Kocaks Familie eintraf, hätten die Beamten also sensibilisiert sein müssen. Warum wurde Kocak auch jetzt nicht von der Behörde gewarnt?
Auf Anfrage von rbb24 Recherche und "Berliner Morgenpost" verweist das Berliner LKA darauf, dass die Ermittlungen zu den Drohschreiben des "NSU 2.0" vom LKA Hessen geführt wurden. Zur Bewertung möglicher Gefährdungen sei mit den dort zuständigen Dienststellen ein "regelmäßiger und intensiver Austausch" erfolgt. Eine "tatsächliche Gefährdung" habe sich im Fall Kocak "unter Berücksichtigung aller dort zu diesem Zeitpunkt bereits bekannten Drohmails im Sachzusammenhang" nicht ergeben.
Das LKA Hessen habe aber dennoch zugesichert, Kocak über die damaligen Mails zu informieren. Doch die Information erfolgte nicht. So versichert es jedenfalls Ferat Kocak.
Die Behauptung der Polizei, dass eine "tatsächliche Gefährdung" nicht erkennbar gewesen sei, kann Kocak nicht nachvollziehen. Zwar sei der mutmaßliche Verfasser der Drohmails, der Mitte 2021 festgenommene langzeitarbeitslose Berliner Alexander M., möglicherweise eher ein "rassistischer Maulheld" und weniger ein Gewalttäter. Als das Drohschreiben vom März 2019 beim Berliner LKA eintraf, hätten die Beamten das aber nicht wissen können. "Dass die Polizei mich trotz des vorherigen Brandanschlag auf mein Auto auch nach der E-Mail vom März 2019 nicht gewarnt hat, finde ich skandalös", sagt Kocak. Die Polizei versichert derweil, dass Ermittlerinnen und Ermittler des Berliner LKA mit Kocak mehrere Sicherheitsgespräche geführt hätten – zwar nicht nach der Droh-E-Mail vom März 2019, wohl aber aufgrund weiterer E-Mails des "NSU 2.0" aus dem Jahr 2020.
NSU 2.0: Gibt es Zusammenhänge zur Neuköllner Anschlagsserie?
Für die Frage, warum es ein solches Sicherheitsgespräch nicht auch nach der E-Mail vom März 2019 gab, dürften sich bald auch die Parlamentarier interessieren. Denn SPD, Grüne und Linke verständigten sich angesichts einer Reihe von mutmaßlichen Versäumnissen der Sicherheitsbehörden auf das Einsetzen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Das Gremium soll in den kommenden Monaten seine Arbeit aufnehmen. Die Parlamentarier dürften sich dabei auch mit der Behauptung in den Droh-Mails befassen, dass der "NSU 2.0" für den Brandanschlag auf Kocaks Auto verantwortlich sei. "Der Ausschuss wird prüfen müssen, ob das LKA zu dieser Selbstbezichtigung ordnungsgemäß ermittelt hat, und ob es womöglich tatsächlich einen Zusammenhang zur Neuköllner Anschlagsserie geben könnte", sagt Kocak. Die Polizei sieht nach Auskunft der Behörde keinen solchen Zusammenhang.
Alexander M., der mutmaßliche Verfasser der Drohschreiben, muss sich derweil seit Februar dieses Jahres in Frankfurt am Main vor dem Landgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, zwischen August 2018 und März 2021 insgesamt 116 Drohschreiben versandt zu haben. Die Anklage lautet unter anderem auf Bedrohung und Beleidigung, sowie Volksverhetzung und öffentliche Aufforderung zu Straftaten.
Mutmaßliche Brandstifter bald vor Gericht
Auch die Neonazis Sebastian T. und Tilo P. werden sich schon bald vor Gericht verantworten müssen. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihnen unter anderem vor, am 1. Februar 2018 den Brandanschlag auf das Auto von Ferat Kocak und einen weiteren Anschlag auf das Auto des Buchhändlers Heinz Ostermann verübt zu haben. Im Fall einer Verurteilung drohen den Rechtsextremisten mehrjährige Haftstrafen. Die Anklage wurde vom Gericht allerdings noch nicht in vollem Umfang zur Verhandlung zugelassen.
Die Brandstiftungen gelten als Teil der rechtsextremistischen Neuköllner Anschlagsserie. Die Polizei hat mehr als 70 zwischen 2016 und 2019 begangene Straftaten registriert, die sich gegen Menschen richteten, deren Engagement gegen Rechtsextremismus bekannt ist. Ferat Kocak hofft, dass die Täter in einem rechtsstaatlichen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werden. "Mein Vertrauen in die Arbeit der Polizei wird das aber kaum wiederherstellen können", sagt Kocak. "Die Polizei hat mich im Stich gelassen. Das lässt sich nicht so einfach reparieren."
Sendung: Inforadio, Nachrichten, 18.03.2022, 9 Uhr