Nach schleppender Aufklärung - U-Ausschuss zu Neuköllner Anschlagserie startet voraussichtlich im Mai
Rot-Grün-Rot in Berlin hatte es bereits angekündigt: Zu der Neuköllner Anschlagserie wird es einen Untersuchungsausschuss geben. Im Mai soll er die Arbeit aufnehmen. Der genaue Auftrag wird voraussichtlich bei der nächsten Parlamentssitzung festgeklopft. Von Christoph Reinhardt
60 Fragen listet der seitenlange Antrag der rot-grün-roten Berliner Koalition auf: Die Abgeordneten wollen wissen, wie die Sicherheitsbehörden gegen die Anschlagserie in Neukölln vorgegangen waren. Und vor allem, warum die Ermittlungen jahrelang ins Leere liefen. Hatten die Ermittler einfach nur Pech bei der Suche nach gerichtsfesten Beweisen? Oder hatten die Täter Sympathisanten in den Sicherheitsbehörden, die die Ermittlungen ausbremsten?
"Wir werden mögliche Fälle von Verbindungen insbesondere aus der Polizei in die extrem rechte Szene untersuchen", kündigt der Innenpolitiker Niklas Schrader von der Linksfraktion an. Der Neuköllner Abgeordnete verfolgt die Anschlagserie seit Jahren und hat den Fragenkatalog für seine Koalition ausgehandelt. "Es gab Beispiele wie einen Polizisten, der in einer rechten Chatgruppe mit einem Tatverdächtigen war. Und einen anderen, der sich mit einem Tatverdächtigen in einer Kneipe getroffen hat und wir nicht genau wissen, was dort passiert ist."
Gestörtes Vertrauen in Sicherheitsbehörden
Auch die Rolle der Staatsanwaltschaft und des Verfassungsschutzes kommen auf die Tagesordnung. Zwar hatte bereits im vergangenen Jahr eine Expertenkommission des Senats Defizite der Sicherheitsbehörden festgestellt. Auch hatte die Berliner Polizei selbst untersucht, welche Mängel es bei den Ermittlungen in den eigenen Reihen gegeben hatte. Das Parlament könne sich damit aber nicht zufriedengeben, sagt der innenpolitische Sprecher der Grünen, Vasili Franco: "Wenn man sich die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen anschaut, sieht man, dass es da einige Leerstellen gibt. Da werden wir natürlich genauer hinschauen."
Nicht zuletzt wegen der Betroffenen, sagt Franco. Allein für die Jahre 2016 bis 2019 rechnet das Landeskriminalamt der Serie 70 Taten zu, darunter mindestens 14 Brandstiftungen und 35 Sachbeschädigungen. Die Opfer waren in der Regel Menschen, die sich in Neukölln gegen Rechtsextremismus engagierten und eingeschüchtert werden sollten. "Die Betroffenen haben im Laufe der Ermittlungen immer wieder geäußert, dass sie sich nicht wirklich gehört gefühlt haben und teilweise nicht immer ernst genommen worden sind", sagt Franco. Es gehe auch um das gestörte Vertrauen in die Sicherheitsbehörden.
Weit gefasster Untersuchungsauftrag
Jahrelang ermittelte die Polizei vor allem gegen zwei Verdächtige, ohne genügend Beweise für eine Anklage zusammenzubekommen. Erst im vergangenen Jahr konnte die Staatsanwaltschaft die beiden vor Gericht anklagen. Das Verfahren wegen eines Brandanschlags auf das Auto des heutigen Abgeordneten Ferat Kocak soll nach rbb-Informationen demnächst am Amtsgericht Tiergarten eröffnet werden.
Bis ins Jahr 2009 wollen die Abgeordneten zurückgehen, kündigt der Linke Niklas Schrader an. "Wir wollen uns anschauen, wie es dazu kam, dass sich offenbar die Tatverdächtigen auf eine Weise unbesiegbar gefühlt haben." Möglicherweise, weil ihnen nicht genügend von den Behörden entgegengesetzt wurde, so Schrader. Zum Untersuchungsauftrag gehört für die Koalition auch die Klärung, ob es Verbindungen zwischen der Anschlagserie und den Todesfällen von Burak Bektaş bzw. Luke Holland gab, die 2012 bzw. 2015 in Neukölln erschossen worden waren. Außerdem soll der Ausschuss die Vernetzung der rechtsextremen Szene über Neukölln hinaus klären, wie Verbindungen zum Nationalen Widerstand Berlin, zur NPD und nicht zuletzt zum Netzwerk der NSU-Unterstützer.
FDP sieht Parlament mit in der Verantwortung
Die Opposition sieht vor allem den Umfang des Untersuchungsauftrags kritisch. Während die CDU den Antrag noch eingehend prüfen will, hofft die FDP, noch in den Ausschussberatungen Änderungen zu erreichen. "Wir müssen genau wissen, was da schief gelaufen ist", sagt FDP-Innenexperte Björn Jotzo. Eine sachgerechte Untersuchung müsse sein, um behördliches Fehlverhalten aufzuklären und Wiederholungen in der Zukunft zu verhindern. Dazu müsse der Untersuchungsauftrag aber klar umgrenzt sein: "Ein globales Scherbengericht hinsichtlich sämtlicher Vorfälle in den letzten 13 Jahren wird schwer zu bewältigen sein."
Die FDP sieht auch eine politische Mitverantwortung des Abgeordnetenhauses, weil die Sicherheitsbehörden nicht angemessen ausgestattet und darum überlastet waren. Jotzo erhofft sich Erkenntnisse darüber, welche Ausstattung nötig ist, damit sich Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.
Mindestens zwei bis drei Jahre dürfte es dauern, bis der Untersuchungsausschuss alle Akten ausgewertet und die Zeugen vernommen hat. Jede der sechs Fraktionen kann für die inhaltliche Vorbereitung einen Referenten oder eine Referentin beschäftigen. Insgesamt besteht der Ausschuss aus elf Abgeordneten und ebensovielen Stellvertretungen. Die Sitzungen werden voraussichtlich alle zwei Wochen stattfinden und sind in der Regel öffentlich.
Sendung: Inforadio, 30.03.2022