Ärztemangel - Warum viele junge Assistenzärzte den Traumjob hinwerfen wollen
Ärzte fehlen an allen Ecken und Enden, auch in Berlin. Und es ist keine Besserung in Sicht: Nach einer aktuellen Studie denken ein Drittel der jungen Medizinerinnen und Mediziner nach dem erfolgreichen Studium ans Aufgeben. Von Thomas Rautenberg
Paolo Mehringer hat vor einem Jahr sein Medizinstudium in Italien abgeschlossen. Jetzt lebt der 28-Jährige in Berlin und ist Assistenzarzt auf der Gynäkologie- und Geburtshilfestation eines großen Klinikbetreibers. Arzt werden sei schon immer ein Lebenstraum gewesen, sagt Paolo: "Und nach ganz, ganz viel Arbeit im Studium hat sich dieser Traum zunächst auch erfüllt."
Arbeit ohne Ende
Doch als Arzt in Weiterbildung oder Assistenzarzt fing für ihn die richtige Arbeit erst an - und das buchstäblich rund um die Uhr. Manchmal, erinnert sich Paolo, habe er über viele Tage nichts anders als die Klinik gesehen. 40 Stunden war seine vertragliche Wochenarbeitszeit. Darüber hinaus musste er zumindest an zwei Wochenenden im Monat den Dienst auf Station oder in der Rettungsstelle übernehmen. Zweimal 16 Stunden Arbeitszeit im Monat kamen also dazu. "Das ist schon krass", sagt der 28-Jährige.
Anfang des Jahres, hat Paolo auch mal 28 Tage am Stück gearbeitet. Sicherlich ein Extremfall in der Corona-Krise, sagt er.
Groteske Arbeitszeitabrechnung
Paolo Mehringer liegt noch ein anderes Problem auf der Seele, das viele Assistenzärzte gleichermaßen betrifft. Im Klinikalltag werden ihm nur die normalen Schichtstunden auf dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Für die vielen Stunden aber, die er darüberhinaus im Bereitschaftsdienst auf der Station verbringt und dabei, wie er sagt, die exakt gleiche Arbeit macht und sogar operiert, wird er geringer bezahlt.
Und: Diese Stunden werden ihm nicht auf seine fünfjährige Weiterbildungszeit als Facharzt angerechnet. Für einen Zwölf-Stunden-Nachtdienst, rechnet er weiter vor, würden ihm acht reguläre Arbeitsstunden und 3,5 Bereitschaftsstunden angerechnet. Da er den Tag nach der Nachtschicht nicht weiterarbeitet, bekommt er für die Zeit sogar noch Minusstunden angerechnet, die er wiederum mit Überstunden ausgleichen muss. Das sei doch absurd und ungerecht, empfindet der 28-Jährige.
Komplexe Medizin macht die Ausbildung immer schwieriger
Chefarzt Dr. Christian Althoff leitet die Radiologie und Nuklearmedizin am Zehlendorfer Helios-Klinikum Emil von Behring. Er bildet selbst Assistenzärzte aus, kennt deren Probleme, aber auch die Nöte der eigenen Station. Die Medizin, sagt der 49-Jährige, werde immer komplexer. Eine moderne Therapie in der Onkologie sei nicht mal ansatzweise mit den Behandlungsverfahren vor zwanzig Jahren vergleichbar. Die Komplexität der modernen Medizin brauche Erfahrung, sagt Dr. Althoff. Und Erfahrung wiederum brauche Zeit. "Der Arztberuf mit seiner fünfjährigen Weiterbildung zum Facharzt und den Diensten auf Station ist deshalb eine Herausforderung für die jungen Mediziner und deren Familien. Das betrifft nicht nur die Mütter, sondern auch viele Väter, die sich neben dem Job um ihre Familie kümmern wollen."
Personalmangel erhöht den Druck
Für den Stationsbetrieb werden kaum zusätzliche Ärztinnen und Ärzte eingestellt. Zum einen, weil es gar nicht die Bewerber gibt. Zum anderen haben viele Klinikbetreiber zuerst die Wirtschaftlichkeit und erst dann die Arbeitsbedingungen auf den Stationen im Auge.
Die Ärztevertretung Hartmannbund hat im vergangenen Jahr bundesweit 1.200 Assistenzärzte nach ihrer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit befragt: Rund 40 Prozent waren danach zwischen 45 und 55 Stunden im Dienst. Ein Drittel hat im Durchschnitt sogar bis zu 65 Stunden wöchentlich gearbeitet. Nur knapp acht Prozent der befragten Assistenzärzte sind mit den Arbeitsbedingungen im Klinikalltag sehr zufrieden. Die große Mehrheit, nämlich 66 Prozent, schätzen ihre berufliche Situation bestenfalls mit gut oder befriedigend ein.
Ina Reiber, zuständige Referatsleiterin beim Hartmannbund, fordert Entlastung für die Mediziner - vor allem durch viel mehr Digitalisierung und viel weniger Bürokratie. Ärzte sollten wieder Ärzte und keine Buchhalter sein, sagt Reiber. "Die Ärztinnen und Ärzte auf Station müssen endlich wieder zu ihrer ärztlichen Tätigkeit zurückkehren dürfen. Das ist das, was wir von nahezu allen Assistenzärzten gespiegelt bekommen. Und das ist auch die wesentliche Forderung, mit der wir beim Ärztetag auftreten werden."
Ausbildungszahlen müssen steigen
Im vergangenen Jahr haben die deutschen Universitäten nach Angaben des Hartmannbundes rund 11.600 Studienplätze in der Humanmedizin angeboten. An privaten Hochschulen haben in der gleichen Zeit bis zu 900 Studierende angefangen. Im Jahr 2010 hat die Zahl der Medizin-Studienplätze noch bei rund 9.000 gelegen. Der Zuwachs bei den Studienplätzen ist also gering und hält mit dem realen Bedarf in den Kliniken und ambulanten Behandlungseinrichtungen keinesfalls Schritt.
Assistenzarzt Paolo Mehringer gehört nicht zu den über 30 Prozent seiner jungen Kolleginnen und Kollegen, die nach dem erfolgreichen Studium ans Aufgeben denken. Er hat seine Arbeitszeit zunächst auf 70 Prozent reduziert. Paolo will zumindest einen Tag in der Woche frei haben. Seine fünfjährige Weiterbildungszeit zum Facharzt wird sich damit allerdings um zwölf bis fünfzehn Monate verlängern.
Sendung: rbb24 Inforadio, 24.05.2022, 07:05 Uhr