Paritätischer Wohlfahrtsverband - Armut in Deutschland auf Rekordniveau
Die Corona-Folgen werden zunehmend sichtbar: Noch nie gab es soviel Armut in Deutschland wie zur Zeit. In Berlin ist fast jeder Fünfte betroffen, im Speckgürtel um die Hauptstadt sieht es besser aus. Von Sigrid Hoff
Die Zahlen sind bedrückend: Mit einer Quote von 16,6 Prozent hat die Armut in Deutschland im zweiten Pandemiejahr ein neues Rekordniveau erreicht. Jeder Sechste ist mittlerweile betroffen, so das Fazit des Paritätischen Armutsberichts, den der Gesamtverband am Mittwoch in Berlin vorstellte.
Die Situation einzelner Gruppen beschrieb Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Verbandes, als besonders dramatisch: Man habe einen traurigen neuen Höchststand bei der Kinderarmut, jedes fünfte Kind sei arm, sagte er. Ebenso gebe es "einen traurigen Rekord bei Rentnerinnen und Rentnern, da sind es auch mittlerweile über 17 Prozent, aber - das ist neu - wir haben auch besonders starke Zuwächse bei Beschäftigten", so Schneider.
Nach zwei Jahren Corona vor allem mehr Selbstständige betroffen
Vor allem bei Selbstständigen sei die Armut sprunghaft angestiegen von neun auf jetzt über 13 Prozent. Empfehlungen wie kürzlich von Bundesfinanzminister Christian Lindner, die aktuelle Inflationsrate von 7,9 Prozent würde alle zwingen, die Gürtel enger zu schnallen, findet Ulrich Schneider zynisch: "Deutschland ist ein tief gespaltenes Land. Zu sagen, die Inflation trifft uns alle, ist völlig falsch."
Bei vielen Haushalten spiele die Inflation im Alltag überhaupt keine Rolle. Diese Haushalte würden weniger sparen können als bisher, denn erstaunlicherweise sei neben der Armut auch die Sparquote in Deutschland auf einem Rekordniveau. Das zeige die Spaltung der Gesellschaft.
Im Berliner Speckgürtel weniger Armut
Auch die regionalen Unterschiede in der Armutsverteilung in Deutschland sind erheblich. Problemregion Nr. 1 ist das Ruhrgebiet, der größte Ballungsraum der Bundesrepublik. Hier ist die Rate von Hartz IV-Empfängern extrem hoch, vor allem bei Kindern. In Gelsenkirchen und in Essen beläuft sie sich auf 39 Prozent, das heißt vier von zehn Kindern sind dort abhängig von Hartz IV.
Aber auch in Thüringen und Berlin sind die Zahlen der von Armut betroffenen Menschen rasant gestiegen. So ist in der Hauptstadt mit 19,6 Prozent fast jeder Fünfte von Armut betroffen. Das Schlusslicht im Ranking bildet jedoch Bremen mit 28 Prozent.
Zu den Aufsteigern hingegen zählen Länder wie Mecklenburg-Vorpommern und auch Brandenburg (14,5 Prozent). Hier verzeichnen die Regionen im Berliner Speckgürtel Havelland-Fläming (13,9 Prozent) und Oder-Spree (13,4 Prozent) eindeutig die niedrigsten Armutsquoten.
Ein Ost-West-Gefälle, so Schneider, lässt sich 30 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mehr feststellen.
Verband: Entlastungspaket verschärft Spaltung
Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert das von der Bundesregierung aufgelegte Entlastungspaket, das nach dem Gießkannenprinzip Geld verteile: "Damit vertieft man die Spaltung", urteilt Ulrich Schneider, "man vergrößert den Abstand zwischen Arm und Reich, und davor warnen wir sehr."
Der Geschäftsführer fordert die Bundesregierung auf, Maßnahmen zu konzipieren, die nachhaltig sind und bei den Betroffenen auch ankommen. So schlägt er eine dauerhafte Anhebung der Regelsätze in Hartz IV und in der Altersgrundsicherung um 200 Euro vor, sowie eine Verbesserung des Bafögs und des Wohngeldes, um auch diejenigen zu erreichen, die wenig mehr als die Grundsicherung haben.
"Wir hätten die Möglichkeit, mit diesen Reformen die Armut dauerhaft zu bekämpfen und damit unsere Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen gegen Krisen wie Corona oder Preissteigerungsraten", so Schneider. Die steigenden Lebenshaltungskosten als Folge des Kriegs in der Ukraine würden die Situation der Betroffenen im Jahr 2022 zusätzlich verschärfen. Schon jetzt sei die höchste Inflationsrate in 50 Jahren zu verzeichnen.
Das würde zwar nicht automatisch bedeuten, dass die Zahl der Armen steige, doch die Kaufkraft schwinde zusehends. Dadurch verwandele sich soziale Not in soziales Elend. Ulrich Schneider warnt: "Darauf müssen wir uns einstellen, deshalb muss die Regierung jetzt rasch reagieren."
Sendung: rbb24 Inforadio, 29.06.22, 16:40 Uhr