Pandemie-Ausnahmen für Fluglinien - Um was es beim Streit um sogenannte "Leerflüge" wirklich geht
Ohne Pandemie wäre am BER wahrscheinlich so viel los, dass Rechte für Starts und Landungen knapp wären. Um solche Rechte wird derzeit gestritten - zwischen Platzhirschen wie der Lufthansa, Billigfluglinien und der EU. Von Oliver Noffke
Wenn die EU bei ihrer derzeitigen Position bleibe, werde allein der Lufthansa-Konzern in diesem Winter 18.000 Flüge leer oder fast leer durchführen müssen. Diese Aussage von Lufthansa-Chef Carsten Spohr sorgt seit einigen Tagen für Schlagzeilen. Spohr fordert von Brüssel "klimaschonende Ausnahmeregelungen" für seine Branche.
Um was geht es bei dem Streit? Sind Fluglinien die neuen Vorkämpfer in Sachen Umweltschutz? Und wie sieht es in der Region aus: Kommen derzeit massenhaft leere Flugzeuge am BER an?
Die Sache mit den Slots
Spohr zielt mit seiner Kritik auf eine Regelung der EU, die sicherstellen soll, dass es zwischen den Fluglinien einen fairen Wettbewerb gibt. Prinzipiell dürfen Airlines, die in der EU ihren Sitz haben, auch jeden Flughafen innerhalb der Union bedienen.
Einige Ziele sind natürlich attraktiver als andere. Damit besonders nachgefragte Flughäfen nicht überlastet werden, ist dort die Zahl der möglichen Starts und Landungen zu bestimmten Zeiten limitiert. Das sind die sogenannten Slots.
Am BER sind zum Beispiel 78 Slots pro Stunde vorgesehen, teilt Pressesprecherin Sabine Deckwerth rbb|24 mit. Genutzt würden derzeit lediglich 40. Es gibt in Schönefeld also nur etwa halb so viele Flugbewegungen, wie maximal möglich wären.
Vergeben werden die Start- und Landerechte hierzulande von der Flughafenkoordination Deutschland, kurz Fluko. Einem Unternehmen, das in Frankfurt am Main sitzt und vollständig dem Bund gehört.
Hat eine Fluglinie einige der limitierten Slots an einem Flughafen ergattert, darf sie diese relativ frei nutzen. Ob ein Flugzeug aus Rom oder Stockholm zur Landung ansetzt, ist unerheblich. Ebenso, ob es nach Budapest oder Dublin weiterfliegt. (Hat die Airline ihren Sitz außerhalb der EU oder liegt das Flugziel nicht in der Union, wird es allerdings komplizierter.)
Platzhirsche mit Großvaterrechten
Wenn eine Fluglinie einmal Slots hat, kann sie diese nicht einfach so wieder verlieren. "Man hat dann sogenannte 'Großvaterrechte' und fliegt das jedes Jahr im Sommer oder Winter weiter ab", erklärt Luftfahrtexperte Cord Schellenberg auf Anfrage, "und wenn eben alles schon verteilt ist, ist es schwer für neue Fluggesellschaften da überhaupt reinzukommen."
An dieser Stelle kommt die EU ins Spiel: Sie hat festgelegt, dass eine Airline mindestens 80 Prozent ihrer Slots nutzen muss. "Damit diese Zeitfenster eben nicht nur vergeben sind und Fluggesellschaften darauf sitzen, sondern auch im Sinne der Passagiere und Flughäfen genutzt werden", so Schellenberg. Erfüllt eine Airline dieses Ziel, darf sie im nächsten Flugplan die gleichen Slots wieder nutzen. "Also kommt kein anderer ran", sagt er. Andernfalls verfallen die Rechte und werden neu vergeben.
Dabei ist es unerheblich, wie groß das Flugzeug ist, das einen Slot nutzt. Denn die EU betrachtet nur Flugbewegungen. Ob nun ein vierstrahliger Großraumjet das Zeitfenster bedient oder eine kleine Turboprop-Maschine ist egal.
Haben nur wenige Menschen einen bestimmten Flug gebucht, können die Airlines allerdings offensichtlich nicht einfach kleinere Flugzeuge einsetzen. Entweder haben sie diese gar nicht oder nicht sehr viele davon. Welcher Flugzeugtyp für welchen Slot vorgesehen ist, stehe auch meist schon vor dem jeweiligen Sommer- oder Winterflugplan fest, sagt BER-Sprecherin Deckwerth. "In etwa zehn Prozent der Fälle kommt es zu kurzfristigen Änderungen."
Sind auf einem Flug nur wenige Menschen gebucht und kann kein kleineres Flugzeugmodell eingesetzt werden, steckt die Airline in einem Dilemma. Um im nächsten Flugplan nicht ihre Slots zu gefährden, kann sie den Flug nicht einfach absagen. Stattdessen finden Flüge dann auch fast oder vollständig leer statt.
Der Pandemie-Waiver
Was zu normalen Zeiten günstige Preise garantiert hat, ist in der Pandemie zu einem gewaltigen Problem für die Airlines geworden. Sollen wirklich 80 Prozent aller Slots genutzt werden, obwohl kaum jemand fliegen will, weil gerade eine neue Seuche grassiert? Nein, sagt auch die EU-Kommission. Schon in der ersten Corona-Welle hat Verkehrskommissarin Adina Valean den Airlines eine Befreiung von der Regel erteilt – englisch: Waiver.
Die Airlines können also die Mindestanforderungen reißen und verlieren trotzdem nicht ihre angestammten Slots.
Die Lufthansa fordert, das in absehbarer Zukunft die 80-Prozent-Regel komplett ausgesetzt wird. Viele in der Branche unterstützen sie dabei, etwa der Dachverband der Fluggesellschaften, IATA. Aber nicht alle sehen das so.
Am lautesten stellte sich bisher die ungarische Billigfluglinie Wizzair dagegen. Sie forderte bereits im Juli, dass die EU zu der alten Regelung ausnahmslos zurückkehren solle [reuters.com, Informationen in englischer Sprache]. Wenn die etablierten nicht leer fliegen wollen, müssen sie eben Slots abgeben, so Wizzair. Die derzeitige Regelung bevorzuge Konzerne, "mit einem schwachen Geschäftsmodell und einem anhaltenden Hang zu schlechtem Kostenmanagement". Wizzair selbst würde gern an einigen beliebten Flughäfen öfter landen und starten, hat aber momentan keine Chance auf weitere Slots.
...und dann kam Omikron
Nach wie vor wird von den Fluglinien nicht verlangt, 80 Prozent ihrer Slots zu nutzen. Im derzeitigen Winterflugplan müssen 50 Prozent der Slots genutzt werden. Im kommenden Sommerflugplan, der im März beginnt, sollen es 64 Prozent sein.
Diese Festlegung wurde am 15. Dezember veröffentlicht. Damals ging die EU davon aus, dass die Zahl der Flugbewegungen im kommenden Sommer etwa bei 89 Prozent des Niveaus von 2019 liegen dürfte.
"Aber das ist vielleicht eine Prognose, die sich nachher nicht einstellt", sagt Schellenberg. Denn nun ist Omikron da. Und während die neue Corona-Variante offenbar für den Einzelnen weniger schwer verläuft, ist sie für die Gesellschaft insgesamt eine schwer kalkulierbare Belastung. Denn durch die schnellere Verbreitung werden mehr Menschen gleichzeitig krank und fallen auf Arbeit aus.
Was das für die Flugbranche bedeutet, zeigt sich gerade in den USA. Dort fallen täglich Tausende Flüge aus, weil Airlines und Flughäfen mit enormen Krankenständen zu kämpfen haben [tagesschau.de]. Muss ein Flug wegen Personalmangels abgesagt werden, haftet in der EU die Airline.
Diese Unsicherheit erkennt auch die EU. Ihre Veröffentlichung hat sie deshalb mit einem Hinweis versehen: "Sollte sich [...] die Situation aufgrund der Omikron-Variante auf einigen Strecken verschlechtern [...], werden die Fluggesellschaften durch die begründete Ausnahme der Nichtnutzung […] geschützt und verlieren nicht ihre angestammten Rechte auf den betroffenen Strecken." [ec.europa.eu]
Bisher gab es schon Sonderregelungen: "Bei Hochrisikogebiete oder Virusvariantengebieten hat die EU zu den Airlines gesagt: Die könnt ihr separat behandeln", so Schellenberg.
Jetzt günstig Flüge buchen?
Wer in den kommenden Tagen oder Wochen spontan fliegen möchte, kann zum Teil sehr günstige Tickets finden. Allerdings ist momentan auch die Unsicherheit aufgrund von Omikron besonders hoch. Mit jeder neuen Pandemiewelle ist bei den Airlines auch die Zahl extrem kurfristiger Stornierungen jedes Mal wieder angestiegen.
Vor etwa zwei Monaten, als Delta abzuebben schien, sah alles noch ganz anders aus: Insbesondere bei Fernflügen konnte das Angebot die Nachfrage überhaupt nicht abdecken. Die Preise schossen in seit Langem ungekannte Höhen.
Eine Prognose zum Flugaufkommen und damit auch zu den Preisen für das Frühjahr oder gar den Sommer abzugeben, erscheint derzeit unmöglich. Das betrifft nicht nur Airlines. "Wir können auf Grund der Pandemie allenfalls vier bis sechs Wochen im Voraus planen", so BER-Sprecherin Sabine Deckwerth. "Reise- und Hygienebestimmungen ändern sich permanent und prägen auch das Reiseverhalten der Menschen. Flüge werden kurzfristig umgebucht oder storniert. Die gesamte Luftverkehrsbranche fährt auf Sicht."