Mehrwertsteuersenkung ab Juli - "Es profitieren die, die es eigentlich nicht benötigen"

Mo 29.06.20 | 13:59 Uhr
Symbolbild: Kunden stehen vor einem Elektronikmarkt an. (Quelle: dpa/Michael)
Video | 29.06.2020 | Marek Walde und Heike Schüler | Bild: dpa/Michael

Die Mehrwertsteuersenkung soll ab Juli die Preise in den Läden um im Schnitt 1,6 Prozent purzeln lassen. Doch Kritiker bemängeln, dass sich die Maßnahme nur bei wirklich großen Investitionen bemerkbar macht. Von Johannes Frewel

16 statt 19 und fünf statt sieben Prozent – die Mehrwertsteuersenkung lässt bei Waren und Dienstleistungen ab Juli bis Jahresende die Preise purzeln. Das Statistische Bundesamt erwartet inflationsgewichtet einen Rückgang der Verbraucherpreise um rechnerisch 1,6 Prozent.

Nahrungsmittel, Bekleidung, Elektronik oder Dienstleistungen dürften im alltäglichen Warenkorb die Haushaltskasse nach der Steuersenkung weniger strapazieren. Die Mehrwertsteuer für Bahn-Ferntickets sank bereits vor Corona im Januar von 19 auf sieben Prozent. Völlig wirkungslos bleibt die jetzige Steuersenkung auf Mieten, denn für sie kassiert der Staat ohnehin keinen Steueraufschlag.

Mehrwertsteuer = Umsatzsteuer

Doch was kann die geringere Mehrwertsteuer bewirken? Sie wird auf den Umsatz erhoben und deshalb auch Umsatzsteuer genannt. Einige halten die Senkung für einen wichtigen Wachstumsmotor auf dem Weg aus Krise, andere hingegen für ein bürokratisches Monster ohne wirklichen Effekt. Sie soll Verbraucher zum Konsum anregen und so die Wirtschaft ankurbeln. Experten zweifeln allerdings, ob die Wachstumswette auf den Schnäppchenboom tatsächlich aufgeht.

Insgesamt schüttet der Staat durch die Steuersenkung zwanzig Milliarden Euro über Deutschland aus. Zu schlecht vorbereitet, überstürzt, vieles bleibe unklar, kritisiert Lisa Paus, Finanzexpertin der Grünen im Bundestag. Denn bei weitem nicht alle Anbieter würden den Preisvorteil an Verbraucher weitergeben, sie müssen das nicht einmal. "Das ist eigentlich eine gute soziale Maßnahme", sagt Paus, so wie sie aber gemacht sei, werde sie ganz bestimmt nicht sozial ausgleichend wirken. Es gebe bereits ein Schreiben des Finanzministeriums: es müssten nicht alle Preise umetikettiert werden. "Wenn sie nicht umetikettiert werden, gibt es auch keine Preisnachlässe für die Verbraucherinnen und Verbraucher", rechnet Paus vor, "das ist absoluter Irrsinn und deshalb sind das zwanzig Milliarden Euro, die verpuffen".

Beim Selbstversuch können 2.000 Euro gespart werden

Insgeheim gilt die Mehrwertsteuersenkung auch als Bonbon für die Autoindustrie. Das wäre ein willkommener Effekt, argumentiert CDU-Wirtschaftsexperte Matthias Heider. "Also wenn‘s denn ein Bonbon wird, dann hätte ich nichts dagegen, denn das ist ein Filetstück der deutschen Wirtschaft", argumentiert Haider. Sein Bundestags-Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen liegt in einer Region, in der Autozulieferer zahlreichen Menschen Lohn und Brot geben. "Das bedeutet Einkommen für viele Familien dort", sagt er. "Zugegeben, beim Brötchen beim Bäcker an der Ecke bleibt von der Mehrwertsteuersenkung nicht mehr ganz so viel von übrig", ordnet der CDU-Wirtschaftsexperte die Wirkung der Steuersenkung ein, "aber gerade bei großen Investitionen, macht sich das natürlich schon bemerkbar".

Selbstversuch: Wenn man sich im Internet einen sparsamen Dieselkombi mit modernster Abgastechnik zusammenklickt, den ein großer Hersteller aus dem grün regierten Baden-Württemberg dieser Tage neu auf den Markt bringt, landet man - ohne teure Extras wie Metallic-Lack und Ledersitze, dafür aber mit Schiebedach und Sicherheitsassistenten - bei mehr als 65.000 Euro. Die Mehrwertsteuersenkung könnte für dieses Modell etwa 2.000 Euro Preisvorteil bringen.

Kunden schoben Kaufentscheidungen auf

So rechneten im Juni offenbar viele Kaufinteressenten und schoben den Kauf auf, beklagt Martin Endlein von der Autosachverständigenorganisation DAT. Wieviel Prozent der Kunden deshalb ihre Kaufentscheidung hinausgezögert haben, fragte die DAT Händler vor der Steuersenkung im Juni. Das Ergebnis: fast zwei Drittel. "Es waren 57 Prozent Umsatz, der deshalb fehlt, das ist eine ganz schwierige Situation für den Handel", fasst Endlein zusammen. Die meisten Einnahmen bleiben aus, die Kosten laufen jedoch weiter, am Ende könnte die Pleite drohen.

Zumindest theoretisch große Mehrwertsteuernachlässe bei teuren Waren für Gutverdienende, hingegen nur Centbeträge für Kurzarbeiter beim Supermarkteinkauf: die soziale Bilanz sei schwierig, räumt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW ein. "Menschen mit geringem Einkommen, die sozial Schwächsten, werden nicht sehr stark davon profitieren", erwartet der Berliner Wirtschaftswissenschaftler, "viel mehr profitieren diejenigen, die es eigentlich nicht benötigen". Der Vorteil der Mehrwertsteuersenkung sei, dass sie sehr schnell umgesetzt werden könne. Wenn die Unternehmen die Senkung nicht weitergeben, komme sie den Firmen selbst zugute.

Produkte können nicht rechtzeitig auf dem Markt sein

Corona-bedingt klemmt es nach wie vor weltweit in den Lieferketten. Gut möglich, dass manche Zulieferteile und daraus gefertigte Produkte nicht rechtzeitig auf den deutschen Markt kommen. Denn die niedrige Mehrwertsteuer soll nur bis Jahresende gelten.

Sendung: Inforadio, 29.06.2020, 13:07 Uhr

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