Steigende Lebenshaltungskosten - "Die Armut wandert mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft herein"
Die steigenden Preise in essenziellen Bereichen des Lebens könnten schon bald Menschen in die Armut treiben, die oberhalb der offiziellen Armutsrisikoschwelle liegen. Statistisch erfassbar ist das noch nicht, aber zu beobachten. Von Simon Wenzel
Steigende Heizkosten, steigende Mietpreise, steigende Lebensmittelkosten - all das zusammen sorgt für Nöte bei Menschen, die bisher noch oberhalb der Armutsrisikoschwelle waren. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge erwartet deshalb, dass in den kommenden Monaten immer mehr Menschen einem Armutsrisiko ausgesetzt sein werden.
"Die Armut wandert mehr und mehr in die Mitte der Gesellschaft herein", sagt Butterwegge rbb|24. Er prognostiziert für die kommenden Monate, dass mehr Menschen in die absolute Armut rutschen, also in Existenznöte geraten. Außerdem werde die verdeckte, statistisch nicht erfasste, Armut ansteigen.
Berliner Stadtmission registriert mehr Menschen
Die Berliner Stadtmission beobachtet in der täglichen Arbeit ähnliches. "Wir haben schon eine Steigerung bei der Anzahl der Personen festgestellt, die unsere Hilfsangebote annehmen", sagt Barbara Breuer. Es seien auch Menschen aus anderen ökonomischen Schichten darunter, Klein- und Kleinstselbständige beispielsweise und viele ältere Menschen.
"In unserer Schuldnerberatung hatten wir kürzlich eine Frau, die ein Kosmetikstudio hat. Die konnte ihren Strom plötzlich nicht mehr bezahlen", sagt Breuer. Menschen, die bislang "ganz gut über die Runden gekommen" seien, würden jetzt auf jeden Euro schauen müssen. Gerade zum Ende des Monats nehmen deshalb immer öfter Menschen die Hilfsangebote der Stadtmission an. Normalerweise besuchen Breuers Angaben zufolge rund 100 Menschen pro Tag die Kleiderkammer, "vor ein paar Wochen hatten wir dann plötzlich 170 Menschen da", sagt sie. Auch bei der Essensausgabe am Zoo kämen teilweise 100 Menschen mehr als früher.
In Krisenzeiten ist es schwer Armut statistisch zu erfassen
Was Breuer schildert, sind Beobachtungen aus dem täglichen Alltag ihrer Hilfsorganisation, subjektiv, keine repräsentative Zahl. Aber die offizielle Auswertungen des statistischen Bundesamtes zur aktuellen Zeit werden frühestens in einem Jahr verfügbar sein. Solange dauert die Auswertung der Daten immer. Die aktuellsten Statistiken des Amts [externer Link: destatis.de] bilden die Erhebungen aus dem Jahr 2021 ab. Selbst darin wird das relative Armutsrisiko in Deutschland bereits mit 15,8 Prozent angegeben. Rund 13 Millionen Menschen waren also armutsgefährdet.
Das relative Armutsrisiko berechnet sich aus dem Einkommen im Verhältnis zum mittleren Einkommen der Gesamtbevölkerung. Der Schwellenwert lag 2021 bei 15.009 Euro Netto im Jahr für alleinlebende Personen.
"Je mehr sich die Krisen häufen und miteinander verschränken, umso schwieriger wird es, Armut statistisch zu erfassen", sagt Butterwegge. Grundsätzlich halte er die Zahlen des statistischen Bundesamtes allerdings für aussagekräftig. Die stets vorhandene Dunkelziffer, könnte aber steigen. "Es gibt die statistisch schwer erfassbare, verborgene Armut, die darin besteht, dass zwar das Einkommen einer Person über dem Armutsrisikoschwellenwert liegt, aber die Ausgaben so explodieren, dass diese Menschen trotzdem nicht über die Runden kommen", sagt Butterwegge. Genau das steht nun zu befürchten.
Butterwegge prognostiziert Anstieg der reellen und verborgenen Armut
Er sehe im wesentlichen drei Trends für die kommenden Monate:
"Erstens werden mehr Menschen Einkommensverluste haben, das heißt, unter die Armutsrisikoschwelle sinken und damit wird der Anteil der Menschen, die unter der Schwelle liegen, steigen. Zweitens wird es einen Umschlag geben von relativer Einkommensarmut (Darunter versteht man das zuvor beschriebene, Anm. d. Red.), hin zu absoluter Armut. Absolut arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, der hat nicht genug zu Essen, kein sicheres Trinkwasser, kein Obdach, keine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung", sagt Butterwegge. Er befürchte deshalb einen starken Anstieg der Obdachlosenzahlen, durch mehr Räumungsklagen und Zwangsräumungen.
"Der dritte Trend ist, dass es stärker eine verborgene Armut geben wird. Das ist etwas, was wir wahrscheinlich in nächster Zeit öfter erleben werden, dass Menschen in existenzielle Not geraten ohne von der Statistik her gesehen in den Bereich der Armutsgefährdung hineingeraten zu sein", sagt Butterwegge.
"Das sind Sachen, bei denen man Bauchweh kriegt"
Auch die Berliner Stadtmission bereitet sich darauf vor. Eine Gemeinde in Berlin habe daher bereits jetzt ihre Räume für Menschen aus dem Kiez geöffnet, die sich ihre Heizung nicht mehr leisten können. Sie können sich bei der Stadtmission aufwärmen. Wie Menschen, die bisher nicht unter die Armutsschwelle fielen die Hilfsangebote wahrnehmen würden, sei ganz unterschiedlich, sagt Barbara Breuer: "Es gibt Menschen, die kommen über eine längere Zeit und sagen kaum etwas und irgendwann öffnen sie sich und sagen: Ich bin einfach arm, ich habe kein Geld, ich komme zu diesem Frühstück, weil ich es mir zuhause nicht leisten kann. Das sind Sachen, bei denen man Bauchweh kriegt."
Traditionell ist die Armut in Großstädten wie Berlin höher, als im ländlichen Raum. Das zeigt sich auch im bundesweiten Vergleich des paritätischen Wohlfahrtsverbandes, im aktuellen Bericht von 2021 [externer Link: der-paritaetische.de] weisen die Stadtstaaten Bremen (28 Prozent) und Berlin (19,6 Prozent) die höchsten Armutsquoten aus.
Alte Menschen besonders von der Krise betroffen
Von der gegenwärtigen Krise seien innerhalb der Städte vor allem alte Menschen besonders stark betroffen. Rentnerinnen und Rentner sind mehr zu Hause und kälteempfindlicher als junge, berufstätige Menschen, sie treffen die gestiegenen Energiekosten daher besonders, sagt Christoph Butterwegge. Er findet: Sie sollten mehr Beachtung in den Entlastungspaketen der Politik finden, als bisher.
Auch die Berliner Stadtmission registriert bereits seit einiger Zeit immer mehr Rentnerinnen und Rentner, die zum Ende des Monats das Frühstücksangebot wahrnehmen oder das Hygienecenter der Stadtmission zum Duschen nutzen würden. Barbara Breuer spricht in diesem Zusammenhang von "Stadtarmut".
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