#träumweiter - Radikale Visionen auf dem Prüfstand - Aarons Traum: Alle erben alles
Noch nie wurde in Deutschland so viel vererbt wie im Moment: Schätzungsweise 400 Milliarden Euro jährlich. Das meiste davon innerhalb eines kleinen Teils der Bevölkerung. Ist das gerecht? Oder sollte man Erbschaften einfach ganz abschaffen?
"Es geht nicht darum, jemandem seine Zahnbürste oder seinen Laptop wegzunehmen.“ Aaron Bruckmiller verschränkt die Arme vor der Brust. "Es geht darum, dass zwei Drittel des Vermögens in Deutschland von zehn Prozent der Bevölkerung gehortet werden. Und diese so genannten Leistungsträger übergeben ihr Geld unversteuert an ihre Kinder. Das ist ungerecht. Ich fordere 100 Prozent Erbschaftssteuer.“
Der 26-jährige Aktivist, der sich unter anderem bei der DGB-Jugend und der "Interventionistischen Linken" engagiert, lehnt an der Balustrade der Admiralsbrücke in Berlin-Kreuzberg. An den Ufern des Landwehrkanals sonnt sich die urbane Schickeria. Alle paar Minuten werden die Sonnenanbeter nach leeren Pfandflaschen oder ein paar Cent für eine warme Mahlzeit gefragt.
So sieht es aus in Deutschland im Jahr 2017: Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Allein durch seine Arbeit wird in Deutschland aber kaum jemand reich. Laut einer Erhebung der EZB aus dem letzten Jahr sind die Netto-Vermögen in Deutschland so ungleich verteilt wie nirgendwo sonst im Euro-Raum. Ob man reich ist oder arm bleibt, hängt in erster Linie davon ab, in welche Familie man geboren wurde. Und was es in dieser Familie zu erben gibt.
In Deutschland ist es sehr schwer, von Arbeit reich zu werden
Diese Ungleichheit in Deutschland liegt unter anderem an der unausgewogenen Besteuerung von Löhnen und Vermögen auf der einen – beziehungsweise Erbschaften auf der anderen Seite. 6,8 Milliarden Euro verdiente der Staat im letzten Jahr mit der Erbschafts- und Schenkungssteuer. Übertragen werden jährlich rund 400 Milliarden. Das legt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nah. Das sind gut 70 Milliarden Euro mehr als der gesamte Umfang des Bundeshaushalts für 2017.
Das passt nicht zu einem Land, das sich als Leistungsgesellschaft versteht, meint Markus Grabka. Er forscht am DIW zu Einkommens- und Vermögensverteilung. "Es geht dabei ja um leistungsloses Vermögen. Der Erbe hat dazu selbst nichts beigetragen. Diese Person hatte schlicht Glück in der Geburtslotterie und ist in eine wohlhabende Familie hineingeboren worden."
Was wäre, wenn wir mit einer Erbschaftssteuer radikal umverteilen?
Würde die Erbschaftssteuer auf 100 Prozent steigen, stünden diese 400 Milliarden Euro der öffentlichen Hand zur Verfügung. Was man damit anfangen könnte? Zum Beispiel eine Gesellschaft schaffen, in der alle die gleichen Voraussetzungen haben, in der sich alle auf Grundlage ihrer Talente und Interessen entfalten können.
Ein Ansatz für eine Umverteilung könnte eine "Sozialerbschaft" sein, wie sie von Soziologen wie Claus Offe vor einigen Jahren ins Gespräch gebracht wurde. Mit ihr bekämen alle Staatsbürger einen Betrag in Höhe von 60.000 Euro zum 18. Geburtstag geschenkt. Das Geld könnte jeder frei nach Wunsch einsetzen – um ein Unternehmen zu gründen, eine Ausbildung im Ausland zu finanzieren oder den künstlerischen Ambitionen nachzugehen, ohne Mama und Papa um Hilfe bitten zu müssen.
Das Geld könnte auch der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt werden. Es könnte investiert werden in kleinere Schulklassen und Musikunterricht für alle, in den Ausbau nachhaltiger Landwirtschaft, in Forschung, medizinische Versorgung oder vernünftiges Breitbandinternet. Aaron Bruckmüller würde als erstes die Toiletten in den Berliner Schulen in einen zumutbaren Zustand bringen.
Unternehmerverbände hätten lieber gar keine Erbschaftssteuer
"Wir vertreten die Position: Die Erbschaftssteuer muss abgeschafft werden!“, widerspricht Eberhard Vogt, Sprecher des Bundesverbands mittelständischer Unternehmen. Denn ein guter Teil des deutschen Reichtums steckt in Betriebsvermögen. Unternehmen kämen in Schwierigkeiten und Arbeitsplätze würden gefährdet, wenn für das bereits versteuerte Geld Erbschaftssteuer bezahlt werden müsste, so Vogt. Die Unternehmensnachfolge zu regeln sei häufig schon kompliziert genug. "Oft müssen Angehörige ausgezahlt werden. Mit zusätzlichen Steuern kann die Liquidität gefährdet werden.“
Wenn es also schon eine Erbschaftssteuer gibt, dann bitte weiterhin mit großzügigen Ausnahmen. Darauf pochten die Unternehmerverbände auch im letzten Jahr, als über eine Reform der Erbschaftssteuer diskutiert wurde. Firmenerben würden steuerlich zu sehr geschont, hatte das Verfassungsgericht angemahnt.
Mit den beschlossenen Änderungen ist allerdings kaum etwas anders geworden: Kleine und mittelständische Betriebe können sehr einfach von den Steuern befreit werden. Nur für familiengeführte Unternehmensgiganten – etwa VW, BMW oder Bosch – gelten leicht verschärfte Regeln bei der Unternehmensbewertung. Luxusgegenstände wie Yachten, Oldtimer oder Gemälde müssen häufiger besteuert werden. Für Firmenerben ist es aber immer noch sehr einfach, eine Überprüfung ihres Privatvermögens zu vermeiden.
Auch Reiche sehen, dass Deutschland gespalten ist
Dass die Spaltung zwischen ganz oben und ganz unten in den letzten Jahren dramatisch wächst, fällt inzwischen auch immer mehr Vermögenden auf. Derzeit wächst die Zahl der Stiftungen in Deutschland um mehrere Hundert jedes Jahr. In Zusammenschlüssen wie der "Bewegungsstiftung" investieren Wohlhabende einen Teil ihrer Mittel in soziale und politische Projekte. Als Mitglieder der "Generation der Erben“ wollen sie Teile ihres Vermögens einsetzen, um "(…) gesellschaftlichen Wandel aktiv zu gestalten", schreiben sie auf ihrer Homepage.
Einer dieser Vermögenden ist Florian Weise. Der 29-jährige Millionenerbe beschreibt den familiären Druck, der auf ihm gelastet habe, weil er als männlicher Erstgeborener das Haupterbe der Familie antreten und damit die Dynastie fortführen sollte. "Als so ein Königskind erzogen zu werden, macht einen größenwahnsinnig“, sagt er. Dass er nie arbeiten musste, stellte ihn immer wieder vor die Frage, was er überhaupt anfangen sollte mit seinem Leben. Inzwischen arbeitet Weise bei der Obdachlosenhilfe. Und wird mit seiner Arbeit doch selten ernst genommen – er müsste ja nicht aufstehen am Morgen. Er hat ja geerbt.
Wir brauchen ein neues Verständnis von Hinterlassenschaft
Weise findet, es sei an der Zeit, den Begriff des Erbens zu überdenken. Das Patriarchale, die Vorstellung von Familienbesitz und die Fixierung auf Blutsbande im deutschen Erbrecht – durch Pflichtteilsregeln und Freibeträge – empfindet er als nicht zeitgemäß. "Erben heißt für mich, dass man etwas erschafft, mit dem man seinen Nächsten einen Teil der Lebenslast nehmen kann.
Wer Erbe ist, sollte jeder selbst entscheiden können. Das müssen nicht die leiblichen Kinder sein.“ Eine Erhöhung der Erbschaftssteuer könnte er sich gut vorstellen. Aber 100 Prozent wären maßlos, sagt er: "Dass man seine Liebe auch in materiellen Gegenständen ausdrücken will, finde ich menschlich.“
Eine hundertprozentige Erbschaftssteuer sei sowieso utopisch, erklärt DIW-Forscher Grabka. Sie würde gegen das Grundgesetz verstoßen, das Familie, Eigentum und Erbe unter besonderen Schutz stellt. Aktivist Aaron Bruckmiller würde erwidern: Auch das Grundgesetz ist nicht in Stein gemeißelt. Und 80 Prozent Erbschaftssteuer, die täten es für ihn erstmal auch. "Ich glaube nicht, dass das alle Weltprobleme löst. Aber es wäre ein Anfang.“