#träumweiter - Radikale Visionen auf dem Prüfstand - Carlas Traum: Kinder an die Wahlurne
13 Millionen Menschen in Deutschland dürfen bei der Bundestagswahl nicht über ihre Zukunft abstimmen – weil sie unter 18 sind. Das passt nicht allen. Die Forderung: Wahlrecht ab Geburt. Klingt gewagt? Schon jetzt proben Kinder den demokratischen Aufstand.
Meki Reinhardt hat keine Lust. Nicht auf Siesta in den Hängematten. Nicht auf noch eine Runde Tischtennis. Der Zehnjährige mit den braunen Dreadlocks tobte gerade noch über den Erlebnishof der Arbeiterwohlfahrt im brandenburgischen Beeskow. "Ich will jetzt wieder Capture the Flag spielen", sagt er – ein Geländespiel, bei dem zwei Teams die Fahne des anderen abluchsen müssen.
Die Betreuerin Rebecca Theeß lässt darüber abstimmen. Manche Kinder wenden sich gelangweilt ab, andere heben engagiert ihren Arm. Eins, zwei, drei, vier. Die Capture the Flag-Mannschaft steht. "Okay, viel Spaß dann", sagt Theeß. Meki hat sich einen grünen Stift geschnappt, bemalt mit seinem Team das ausgelegte Papier und bastelt die Fahne zusammen. Die anderen Kinder plumpsen für die Mittagspause in die Hängematten.
Wählen nur für Erwachsene
Wenn es nach Carla Golm ginge, sollten Kinder nicht nur über Spiele in Ferienlagern und Klassensprecher abstimmen dürfen. Sie fordert für politische Wahlen in Deutschland das Wahlrecht ab Geburt. "Es ergibt doch keinen Sinn, wenn Demenzkranke wählen dürfen, Kinder aber nicht", sagt die 15-jährige Berlinerin.
Carla Golm ist wortgewandt und selbstsicher, wenn sie über Mitbestimmung und Demokratie redet. Die Abiturientin sitzt als Abgeordnete im Jugendparlament von Tempelhof-Schöneberg. Dort inspiziert sie mit anderen Kinderdemokraten Spielplätze und Ampeln vor Jugendclubs, schlägt Reparaturen und Verbesserungen vor. Politisch wirksame Entscheidungen trifft das Jugendparlament nicht. Doch die Bezirksverordnetenversammlung muss sich in ihren Sitzungen mit den Beschlüssen der Jugendlichen befassen.
Während sich Golm in ihrem Bezirk politisch engagiert, darf sie bei Entscheidungen, die ganz Deutschland betreffen, nicht mitreden. Sie sagt: "Das Wahlrecht, wie es jetzt ist, schützt vor allem Erwachsene." Kostenlose Bildung, weniger Autos oder eine nachhaltige Umweltpolitik: Kurzum alles, wovon künftige Generationen betroffen sind, wird laut Carla Golm von der Politik kaum beachtet.
Gegen "Alte-Säcke-Politik“
Es gibt auch Erwachsene, die Kinder wählen lassen wollen. Wolfgang Gründinger nennt sich selbst "Zukunftslobbyist". Der 33-Jährige sitzt im Vorstand der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen. Er hat ein Buch geschrieben: "Alte Säcke Politik. Wie wir unsere Zukunft verspielen".
Auch Gründinger befürwortet das Wahlrecht ab Geburt. Seine Argumente:
- Die Zahl alter Menschen in Deutschland steigt. Sie werden als Wählergruppe somit noch wichtiger als jetzt. Das Wahlrecht ab Geburt würde die Parteien zwingen, sich für die Belange junger Leute einzusetzen.
- Ab wann ist jemand reif zum Wählen? Definiert ist das nirgendwo. Entwicklungspsychologen sind sich uneins, ab welchem Alter ein Mensch als mündig gilt. Schließlich dürften auch erwachsene Drogenabhängige oder Demenzkranke im Gegensatz zu Kindern ihre Stimme abgeben – selbst, wenn sie geistig oder körperlich dazu kaum in der Lage sind.
- Junge Leute handeln verantwortungsvoll bei Wahlen. Dies zeigten Erfahrungen aus den vier Bundesländern Brandenburg, Schleswig-Holstein, Bremen und Hamburg, in denen 16-Jährige den Landtag wählen dürfen.
Eine Reform des Wahlalters wäre mit dem Grundgesetz prinzipiell vereinbar. 2016 scheitern 15 Jugendliche der Kampagne "Wir wollen wählen" mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Doch die Karlsruher Richter urteilten, dass es dem Bundestag frei steht, das Grundgesetz in diesem Punkt zu ändern.
Individual-, Stellvertreter- oder Familienwahlrecht
Nur wie soll das Wahlrecht ab Geburt in der Praxis aussehen? Drei Modelle sind denkbar:
- Individualrecht Jeder Bürger darf sich vor der ersten Wahl in ein Wählerverzeichnis eintragen, sobald er sich dazu in der Lage fühlt.
- Familienwahlrecht Bis zum Erreichen der Volljährigkeit wird die Stimme den Eltern übertragen. Die Idee: Eltern wissen am besten, was für ihre Kinder gut ist. Der Deutsche Familienverband spricht sich für dieses Modell aus.
- Stellvertreterwahlrecht Anders als beim Familienwahlrecht fällt die Stimme nicht den Eltern zu. Vielmehr sollen sie auf das Geheiß ihrer Kinder in der Wahlkabine stellvertretend für sie das Kreuz machen.
Vorherrschaft der Alten brechen
Kritiker monieren: Das Stellvertreterwahlrecht verletze den Grundsatz der geheimen Wahl. Eine vorstellbare Situation: Die 15-jährige Tochter beauftragt ihren Vater, ihr Kreuz bei der AfD zu machen. Tatsächlich wählt dieser für sie aber die Tierschutzpartei. Eine Kontrolle, ob das Stellvertreterwahlrecht korrekt ausgeführt wird, ist kaum möglich.
Der 2008 verstorbene Verfassungsrechtler Rudolf Wassermann bemängelte an der Idee des Familienwahlrechts, dass es Eltern bevorzuge – für Wassermann ein "Rückfall in vormoderne Zeiten". Was wäre mit Singles oder Paaren ohne Kinder? Ihre Stimme würde weniger zählen als die der Familien.
Die junge Bezirkspolitikerin Carla Golm und Zukunftslobbyist Wolfgang Gründinger favorisieren das Individualrecht. "Ein Familienwahlrecht wäre eine Bevormundung", sagt Gründinger. Golm findet, ein Familien- oder Stellvertreterwahlrecht würde Kinder und Jugendliche von der Vorherrschaft der Alten nicht befreien.
Freie Wahl?
Ein weiterer Einwand gegen das Wahlrecht ab Geburt: Wenn unter 18-Jährige über die politische Machtverteilung abstimmen dürften, müssten dann nicht auch die Altersgrenzen beim Alkoholkauf oder für das Heiraten abgeschafft werden? Carla Golm widerspricht: "Wenn man mit 14 keinen Alkohol kaufen darf, dient das dem Jugendschutz. Das Wahlrecht ab 18 schützt aber niemanden, sondern schließt nur aus."
Aber können Neunjährige überhaupt beurteilen, ob die Erbschaftssteuer abgeschafft oder die Nato reformiert werden soll? Golm winkt ab: Kinder müssten ja nicht wählen gehen. Doch wer sich dazu bereit fühlt, der solle daran nicht gehindert werden.
Im Beeskower Erlebnishof der Arbeiterwohlfahrt hat Rebecca Theeß mittlerweile die Kinder zum Mittagessen zusammengetrommelt. Alle 30 Kinder finden sich in der Kantine ein. Auch Meki Reinhardt, der vom Capture the Flag-Spiel jetzt eine Pause braucht. "Wir lassen die Kinder schon vieles abstimmen", sagt Theeß. Nur eben nicht über alles. Über das Essen in der Kantine können die Kinder nicht entscheiden: Es gibt Hähnchen, Reis und Salat. Für alle.