#träumweiter - Radikale Visionen auf dem Prüfstand - Carolins Traum: Waffen tragen
Sie fühlt sich in Berlin nicht mehr sicher, deshalb will Carolin Matthie selbst für ihre Sicherheit sorgen: mit einer Schusswaffe. Die Polizei hält den Trend zur privaten Aufrüstung für gefährlich.
Carolin Matthie schaut nicht weg, wenn es gefährlich wird. Vor einigen Wochen ist sie nachts um 3 Uhr auf dem Weg nach Hause am Bahnhof Ostkreuz, als zwischen zwei Männern ein Streit ausbricht. Schnell sind über zehn Personen in eine Prügelei verwickelt, einer der Kontrahenten zieht ein großes Messer. Er fuchtelt wild damit rum, "es sah aus, als ob er auf Passanten losgeht." In ihrer Handtasche umklammert Matthie ein kleines Taschenmesser – lieber wäre ihr eine echte Waffe gewesen.
"Im Notfall will ich mich verteidigen können – auch mit einer echten Schusswaffe", sagt die 24-jährige Informatikstudentin, die in ihrer Freizeit modelt. Bislang darf sie nur eine Schreckschusspistole führen, ihre Walther P99 hat sie vor anderthalb Jahren gekauft.
Damit fühlt sie sich sicherer – und nicht so hilflos wie die Sicherheitskräfte der Bahn. Die konnten in der Nacht am Ostkreuz nur zuschauen und mussten auf die Polizei warten. Die braucht nach einem Notruf aber mindestens fünf Minuten bis zum Tatort, so Matthie. Im Zweifel kann das zu spät sein. Matthie musste ihre Pistole zwar noch nie einsetzen. Doch um sich oder andere zu schützen, wäre sie dazu bereit – daran lässt sie keinen Zweifel.
Zahl der kleinen Waffenscheine stark gestiegen
Derzeit darf in Deutschland außer der Polizei kaum jemand echte Schusswaffen in der Öffentlichkeit tragen. Sportschützen oder Jäger dürfen sie zwar besitzen, auf der Straße aber nur in verschlossenen Taschen transportieren.
Matthie fordert eine Regelung wie in den USA, wo das Recht auf Waffenbesitz in der Verfassung verankert ist und man in einigen Staaten seine Schusswaffen auf der Straße mit sich führen darf. In Deutschland setzt sich die German Rifle Association für eine ähnliche Regelung ein, die 24-Jährige hat enge Kontakte zu der Organisation.
Mit ihrem Wunsch nach mehr Sicherheit und Selbstbestimmung sind Matthie und die Rifle Association nicht allein. 2016 meldeten die Behörden einen rasanten Anstieg bei der Nachfrage nach sogenannten kleinen Waffenscheinen. Wer bestimmte Voraussetzungen erfüllt, erhält den Schein für knapp 50 Euro – und kann dann eine Schreckschuss- oder Gaspistole mit sich führen. 184.000 Scheine wurden im vergangenen Jahr ausgestellt, eine Steigerung um 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
"Reine Panikmache"
Immer mehr Menschen, die sich für Waffen interessieren, kommen zu Andreas Werla. Er wirbt für seine Berliner Firma Shot Event mit "Schießen für Jedermann". Im vergangenen Jahr war der Andrang besonders groß, berichtet er. Auch Bekannte mit Waffenläden seien wochenlang ausverkauft gewesen, vor allem Pfefferspray und Schreckschusspistolen sind begehrt. "Reine Panikmache", findet Werla.
Im Gegensatz zu Matthie ist er strikt gegen das Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit und sagt: "Die Waffengesetze sind größtenteils gut, so wie sie sind.“ Wer in einer bedrohlichen Situation eine Waffe zieht, bringe sich in Gefahr, findet er: "Der Gegner ist wahrscheinlich besser vorbereitet und ausgerüstet. Dann ziehst du deine Waffe und wirst sofort abgeknallt."
"Ich muss dem Staat vertrauen, aber er vertraut mir nicht"
Carolin Matthie holt ihre Schreckschusspistole aus der eleganten Handtasche, entfernt mit geübten Handgriffen das Magazin und versichert sich, dass die Waffe nicht geladen ist. Direkt auf den Körper gesetzt kann die P99 schwer verletzen oder sogar töten.
Im Praktikum bei der Bundeswehr hatte Matthie bereits Kontakt mit Waffen, den Umgang mit ihrer P99 brachte sie sich mit YouTube-Videos bei. Mittlerweile hat sie selbst Videos hochgeladen; in ihrem kleinen Studentenzimmer gibt sie anderen jungen Frauen Tipps im Umgang mit Schreckschusswaffen. Wenn ihr kleiner Bruder zu Besuch ist, schließt sie ihre Pistole weg.
Schusswaffen ganz zu verbieten, träfe genau die Falschen, glaubt Matthie: rechtschaffene Bürger wie sie selbst. Denn Kriminelle versorgen sich auf dem Schwarzmarkt, geschätzt 20 Millionen illegale Waffen gibt es in Deutschland. Verbrechen werden immer brutaler, meint die Studentin. Trotzdem sei die Polizeipräsenz an bekannten Brennpunkten in Berlin gering.
Berichte von maroden Schießständen der Berliner Polizei und von Beamten, die das Schießen kaum üben, beunruhigen Matthie: "Ich muss dem Staat vertrauen, aber er vertraut mir nicht." Sie tritt für den liberalen Gedanken ein, dass der Staat seinen Bürgern nicht vorschreiben sollte, wie sie ihr Leben im Notfall verteidigen.
Welche Waffen sind verboten, welche nicht?
Polizei irritiert von privater Aufrüstung
Ein Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) ist "irritiert und beängstigt" von Matthies Forderungen. Er halte es für gefährlich, wenn Menschen denken, sie könnten Schusswaffen bedienen und Gefahrensituationen richtig einschätzen.
"Wann ist der Punkt erreicht, an dem es die letzte Option ist, einen Schuss abzufeuern?“ Selbst trainierte Sportschützen handeln bei einer akuten Bedrohung nicht total rational, sagt der Sprecher der Gewerkschaft. Außerdem sehe man in vielen Bereichen, dass Regeln nicht immer eingehalten werden – das beginne schon bei der roten Ampel.
Bei Schusswaffen kann ein Fehler einem anderen Menschen jedoch das Leben kosten. Das will die Polizeigewerkschaft verhindern und plädiert für eine unbewaffnete Gesellschaft. Der Sprecher der GdP stimmt Matthie zu, dass der Stellenabbau bei der Polizei und die schlechte Ausrüstung dazu beitragen, dass das Sicherheitsgefühl sinkt.
"Natürlich muss jeder genau überprüft werden"
Die GdP hofft jedoch, dass Druck von Seiten der Bürger auf die Politik zu besserer Ausrüstung und mehr Polizeipräsenz führt. Die Verantwortung und Schusswaffen in die Hände von Einzelnen wie Carolin Matthie zu geben – für die Polizeigewerkschaft keine Option.
Die Studentin wirkt nicht, als ob sie Angst hätte. In ihrer Freizeit betreibt sie Schießsport und absolviert gerade die nötigen Lehrgänge und Übungstermine, um mit einer Waffenbesitzkarte eine echte Schusswaffe erwerben zu dürfen.
"Natürlich muss jeder genau überprüft werden, bevor so eine Erlaubnis ausgestellt wird – und die Regeln sind bereits sehr streng", sagt Matthie. Sie glaubt: Wer die Regeln einhält und alle Anforderungen erfüllt, lebt mit Waffe sicher.