#träumweiter - Radikale Visionen auf dem Prüfstand - Reiners Traum: Unter Beobachtung immer und überall
Überfälle, Mord und Terror haben keine Chance im Überwachungsstaat - theoretisch. Gibt es in Deutschland bald eine flächendeckende Videoüberwachung? Was würde das für unser Leben bedeuten? Erste Schritte gehen Testpersonen jetzt schon am Berliner Südkreuz.
Reiner Diehm durchquert die große Bahnhofshalle und geht zielstrebig auf die Rolltreppe zu. Entspannt schaut er direkt in das Auge der Kamera an der gegenüberliegenden Wand. Eine Software erfasst sein Gesicht und gleicht die biometrischen Angaben mit einer Datenbank ab. Noch bevor er am Ende der Rolltreppe angekommen ist, weiß der Computer: Reiner Diehm ist wieder da.
Er ist einer der knapp 300 freiwilligen Testpersonen, die durch den markierten Bereich am Bahnhof Berlin Südkreuz laufen. Die Gesichter werden von einer Kamera erfasst, die mit einer speziellen Software ausgestattet ist. "Ich mache bei diesem Projekt mit, weil ich davon überzeugt bin, dass durch die Videogesichtserkennung Straftäter schneller gefasst werden können.“
Was die Software zur automatischen Gesichtserkennung leisten kann, soll das Pilotprojekt zeigen. "Mit mehr Kameras würde ich mich auf jeden Fall sicherer fühlen“, so Diehm. "Es stört mich überhaupt nicht, dass ich gefilmt werde. Ich hab‘ ja nichts zu verbergen.“
Spaziergang in HD
Doch was wäre, wenn es nicht nur mehr, sondern überall Kameras gäbe? Wenn jeder Platz und jede noch so kleine Straße und Parkanlage bis in den letzten Winkel von Kameras beobachtet würde? Tag und Nacht, 24 Stunden, sieben Tage die Woche würden Kameras alles aufzeichnen, was ihnen vor die Linse kommt. Wie Menschen Plätze überqueren, sich treffen, sich unterhalten und verabschieden. Aber auch, wie jemand Müll auf die Straße fallen lässt – oder das heimliche Treffen mit dem Liebhaber. Dinge, die täglich tausendfach passieren und unbeobachtet bleiben, werden plötzlich gefilmt.
"Wenn man als Fußgänger bei Rot über die Ampel geht, könnte man theoretisch per Gesichtserkennung sofort erfasst werden und automatisch Punkte in Flensburg kassieren“, sagt Markus Beckedahl von netzpolitik.org e.V. "Eine flächendeckende Videoüberwachung führt zu einer radikalen Anpassung und Normierung der Gesellschaft. Menschen fühlen sich ertappt und verhalten sich deshalb möglichst unauffällig“, so Beckedahl. Plötzlich wäre es möglich, in einer Art Livestream das Leben und Handeln aller Menschen exakt mit zu verfolgen oder sogar vorherzusagen.
Gesichtserkennung als Chance
So utopisch sind solche Szenen gar nicht, denn technisch wären sie durchaus möglich. Noch können sich die Berlinerinnen und Berliner entscheiden, ob sie durch den markierten Gesichtserkennungsbereich am Südkreuz laufen – doch wie lange noch? Die Initiatoren hinter dem Projekt sind die Bundespolizei, das Bundesinnenministerium und das Bundeskriminalamt in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn.
Mit der Software, so ihre Hoffnung, könnten in Zukunft beispielweise registrierte Straftäter oder Terrorverdächtige schneller identifiziert und festgenommen werden. Dazu könnte bald auch Software zur Analyse von Bewegungsprofilen getestet werden. Experten hoffen, dass Algorithmen auffällige Bewegungsmuster erkennen und damit potenzielle Straftäter identifizieren, noch bevor sie die Straftat begehen. Beckedahl sieht das kritisch: "Die Videoüberwachung verstärkt das Signal des Terrors eher noch. Durch die Videopräsenz entsteht eine große Bühne."
Datenschützer und Aktivisten wehren sich vehement gegen Projekte wie das am Südkreuz, auch jetzt noch versuchen sie das Projekt zu stoppen. Sie befürchten, sich bald in einem völlig überwachten und kontrollierten Staat wiederzufinden. Der Verein "Aktion Freiheit statt Angst" setzt sich deshalb gegen den Einsatz von Kameras an öffentlichen Plätzen ein. „Es war uns sehr wichtig, die Menschen über die negativen Seiten der Überwachung aufzuklären. Deshalb haben wir am Südkreuz Reden gehalten und protestiert“, sagt Beate Baum, eine der Rednerinnen von "Freiheit statt Angst“. "Ich fühle mich überwacht und nicht beschützt durch die Kamerapräsenz“, sagt sie.
Auch die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Schmoltczyk sieht die Überwachung kritisch: "Die Verfahren zur biometrischen Gesichtserkennung greifen tief in die Persönlichkeitsrechte von Menschen ein“.
Keine Zeit für die Überwachung Unschuldiger?
Kritik, die besonders in den sozialen Netzwerken immer wieder laut wird, bezieht sich vor allem auf die Überwachung Unschuldiger. Gemeint ist damit jeder Bürger, der nur seinen Alltag bestreitet und trotzdem von den Kameras erfasst wird. "Die Regierung macht es sich leicht und investiert viel Geld in Videotechnik, anstatt das Personal bei der Polizei aufzustocken“, sagt Netz-Aktivist Beckedahl.
In Großstädten wie Berlin gehören Überwachungskameras schon zum Stadtbild. Es gibt hier inzwischen rund 15.000 Kameras, hauptsächlich an öffentlichen Plätzen und im Nahverkehr.
Testperson Reiner Diehm findet das nicht problematisch: "Klar werden alle Personen gefilmt, aber ich bin überzeugt, dass die Unschuldigen sich keine Sorgen machen müssen. Die Polizei ist viel zu unterbesetzt, um Unschuldige zu überwachen.“ Aber ist es wirklich in Ordnung, einen Großteil der Bevölkerung per Video zu beobachten, wenn potenzielle Straftäter nur einen Bruchteil ausmachen?
Fahndungserfolg mit Überwachungsbildern
"Durch die Videoüberwachung allein, werden noch keine Straftaten verhindert“, heißt es auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben. "Überwachungsvideos sind immer wieder nützlich, um Verbrechen aufzuklären“, sagt Jannes Schwentuchowski, Sprecher der BVG. Im Zuge von Ermittlungen Überwachungsvideos auszuwerten gehört für die Polizei zum Arbeitsalltag. Allein die BVG bekommt jährlich 6.000-7.000 Anfragen von den Ermittlern. In einigen Fällen nutzt sie die Aufnahmen aus den Überwachungskameras der BVG auch zur Täterfahndung. Und das auch mit Erfolg, wie im Falle des U-Bahn Treters von der Hermannstraße. Dieser konnte wenige Tage nachdem die Bilder aus der Überwachungskamera publik wurden gefasst werden.
Diese Fälle wurden durch Überwachungskameras aufgeklärt
Allerdings muss sich die Polizei beeilen, denn aus Datenschutzgründen löscht die BVG die Aufnahmen nach 48 Stunden. "Durch die gut 2.500 Kameras, die in fast allen Fahrzeugen und Bahnhöfen der BVG angebracht sind, kommen riesige Datenmengen zustande. Diese können gar nicht komplett gesichtet werden. Dafür ist die BVG personell nicht ausgerüstet“, so Schwentuchowski. "Auswertungen passieren eher punktuell und vor allem dann, wenn tatsächlich etwas passiert.“
Trotzdem gibt es immer noch viele ungeklärte Straftaten, bei denen sich die Spur der Täter verliert, wenn sie die überwachten Bahnhofsbereiche verlassen. Denn trotz all der Vorteile sind Kameras keine Präventivmaßnahme um Straftaten zu verhindern. Überwachungskameras allein schützen noch nicht vor Gewalttätern. Das weiß auch Reiner Diehm. Dennoch ist er überzeugt davon, durch seine Teilnahme am Pilotprojekt etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun.