#träumweiter - Radikale Ideen auf dem Prüfstand - Geraldines Traum: Privatsphäre im Netz
Beobachtet zu werden, löst bei den meisten Menschen Unbehagen aus. Gegen das Werbetracking im Netz regt sich aber kaum Widerstand. Eine Frau will das ändern.
Die Werbewirtschaft hat einen Traum: den Traum von einem Menschen, der immer mit dem gleichen Browser am gleichen Laptop im Internet einkauft. Der die Browser-Daten regelmäßig mit seinem Smartphone synchronisiert. Die Werber träumen von einem Menschen, in dessen Wohnung ein Staubsaugerroboter herumfährt, der mit einer freundlichen, sanften Frauenstimme dem Kühlschrank sagt, dass er neue Milch beim Online-Lieferdienst bestellen soll.
Geraldine de Bastion hält das für einen Albtraum. Die Politikwissenschaftlerin beschäftigt sich mit den Möglichkeiten des Digitalen, seit es das Internet gibt. Sie sagt: "Wir sind gerade an einem kritischen Zeitpunkt." De Bastion leitet den Verein Digitale Gesellschaft, der sich für Verbraucherschutz im Internet stark macht. De Bastion will, dass Menschen jedes einzelne Mal um ihre Einwilligung gebeten werden, wenn ein Konzern ihre Daten erheben möchte. Und dass Menschen auch ablehnen können, ihre Daten abzugeben.
Ungezügelter digitaler Exhibitionismus
Diese Idee kommt einer Revolution gleich, denn bisher ist es ja so: Als Nutzer melden wir uns tagein, tagaus bei sozialen Netzwerken, Onlineshops und Smartphone-Apps an – und kaum noch ab. Was genau mit unseren Daten passiert, wissen wir nicht. Und so richtig interessieren tut es auch niemanden. Für eine Generation, die so auf Freiheit und Individualität setzt, ist dieser ungezügelte digitale Exhibitionismus erstaunlich. Geraldine de Bastion denkt, dass sich das Online-Tracking schon jetzt zunehmend in die Offline-Welt verlagert.
Vor Kurzem sorgte beispielsweise die Supermarktkette "Real" für Aufsehen, als sie in ihren Märkten große Werbedisplays aufstellte. Die Bildschirme zeigten nicht nur Reklame, sondern kleine Kameras filmten auch die Gesichter der Kunden, analysierten ihr Geschlecht und Alter – um dem Publikum passende Werbung zu zeigen. Was die Kunden wussten: dass sie gefilmt werden. Was sie nicht wussten: dass sie dabei zu Werbezwecken analysiert werden. Aus Imagegründen stellte "Real" die Tests wenige Wochen nach Einführung wieder ein.
Einwilligung – "Sonst gibt es keine Daten!"
Ginge es nach Geraldine de Bastion, müssten alle Kunden aktiv um Erlaubnis gefragt werden. Im Falle des Supermarkts hieße das: Jede Person, die einkauft, müsste mit ihrer Unterschrift zustimmen, gefilmt zu werden. "Sonst gibt es keine Daten!", fordert de Bastion. Ein solcher Umschwung würde viele Unternehmen schmerzen. Denn Daten sind ein riesiges Geschäftsmodell.
Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte im vergangenen Jahr Daten "die Rohstoffe des 21. Jahrhunderts." Die CDU-Vorsitzende freut sich, wenn Unternehmen große Datenmengen zur Analyse nutzen. "Das Prinzip der Datensparsamkeit, wie wir es vor vielen Jahren hatten, kann heute nicht die generelle Leitschnur sein für die Entwicklung neuer Produkte", sagt Merkel.
Mit Browsern lässt sich schwer Politik machen
"Dieser Handel muss aufhören", sagt die Politikwissenschaftlerin de Bastion. Doch fällt es Privacy-Aktivisten wie de Bastion oft schwer, mit ihren Forderungen durchzudringen. Denn die Themen Privatsphäre und Datenschutz sind abstrakt und unsichtbar: Mit Browsern lässt sich nur schwer Politik machen. Mit der Überwachung von Bahnhöfen schon eher.
Außerdem ist das Thema noch zu jung, glaubt de Bastion: "Als Autos eingeführt wurden, hatte man auch kein Bewusstsein dafür, dass das alle zwei Jahre einen TÜV braucht." Deshalb hält sie ihre Forderung, dass Werbetracking nur noch mit ausdrücklicher Einwilligung erlaubt sein soll, in gewisser Weise für das digitale Pendant zur Anschnallpflicht im Auto.
Wer sich digital absichern will, ist bisher weitgehend auf sich allein gestellt. Oder setzt auf engagierte Mitmenschen. So haben Datenschutz-Aktivisten im Internet auf über 400 DIN A4-Seiten ein kostenloses "Privacy-Handbuch" verfasst.
Darin erklären sie zum Beispiel, wie Internetnutzer in ihrem Browser dafür sorgen können, dass sich Cookies von alleine zerstören. Einer der Autoren, der unter dem Codenamen Topo anonym bleiben will, fordert von der Politik: "Die natürlichen Bedürfnisse der Menschen nach Privatsphäre sollten Vorrang vor den kommerziellen Interessen der datensammelnden Industrie haben."
Staat als Entwickler neuer Software?
Große Hoffnungen setzt die Szene in die E-Privacy-Verordnung, die aktuell auf EU-Ebene verhandelt wird. Parallel dazu will de Bastion, dass es mehr und bessere Alternativen zu den Internet-Giganten gibt. Soll also der Staat selbst neue Programme entwickeln, zum Beispiel einen Tracking-resistenten Browser?
Nein, sagt die Politikwissenschaftlerin: "Aus meiner persönlichen Erfahrung aus dem entwicklungspolitischen Bereich kann ich sagen: Ich finde es nie eine gute Idee, wenn der Staat Entwickler von Software ist. Stattdessen gibt es viele Möglichkeiten, wie der Staat freie Software-Entwicklung fördern kann."
Das findet auch der Netzaktivist und frühere "WikiLeaks"- Sprecher Daniel Domscheit-Berg: "Wir verblasen Subventionen in Milliardenhöhe für alle möglichen Dinge. Aber es wird fast nichts subventioniert, was mit der Erforschung von Technologien zu tun hat, die sich im Privacy-Sektor befinden." Domscheit-Berg hat kein Verständnis dafür, dass wenig Geld in die Entwicklung von Open-Source-Software gesteckt wird. Damit ist Software gemeint, deren Quelltext öffentlich einsehbar ist – ganz im Gegensatz zur Software der meisten Unternehmen, die laut Domscheit-Berg eher an "schwarze Kisten" erinnerten, deren genauer Inhalt unklar sei.
Bleibt das Gegenargument, dass der Datenhandel ein Wirtschaftsmodell der Zukunft bleiben dürfte, von dem auch Kunden profitieren. Selbst in Branchen, bei denen man es auf den ersten Blick nicht erwarten würde, haben Daten in Konzernhand zu erstaunlichen Innovationen geführt. Das 2011 gegründete Startup Flixbus beherrscht heute den Fernbusmarkt. Überraschend ist: Die meisten Mitarbeiter bei Flixbus sind nicht etwa Busfahrer – sondern Programmierer.
Die IT-Fachleute greifen auf Nutzerdaten zurück, zum Beispiel aus der Flixbus-App, um die deutschlandweiten Fahrpläne zu verbessern. Hier gibt der Kunde also seine Daten ab, doch dafür kommt vielleicht auch der nächste Fernbus, mit dem er fahren will, zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
"Ganz schlimm, wenn Politiker ohnmächtig tun"
Trotzdem bleiben die Datenschützer skeptisch. Topo vom "Privacy-Handbuch" sagt: "Wir stehen erst am Anfang der umfassenden Datenauswertung. Es wird noch viel schlimmer werden."
Kämpferischer ist Geraldine de Bastion: Wenig nervt sie mehr, als wenn Politiker beim Thema Internet Ohnmacht vorgeben. "Ich finde es immer ganz schlimm, wenn seitens der Politik so getan wird, als wenn man sich den Entwicklungen hingeben muss."
Daniel Domscheit-Berg ist dennoch auch optimistisch: "Das Individuum ist in unserer vernetzten Gesellschaft größer als je zuvor." Als Vorbild sieht er Max Schrems. Der österreichische Anwalt sorgte 2015 mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof dafür, dass ein ganzes Datenschutzabkommen zwischen der EU und den USA neu ausgehandelt werden musste. Beschwerden helfen also manchmal. Träume vielleicht auch.