#träumweiter - Radikale Ideen auf dem Prüfstand - Norberts Traum: Gefängnisse abschaffen
Lange Verfahren, immense Kosten, 65% Rückfallquote - Gefängnisse tun wenig dafür, Straffällige wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Die Insassen kämen schlimmer raus, als sie reingegangen sind, sagen Kritiker. Und fordern: Alle Türen auf.
Daniel L.* saß über sechs Jahre in einem deutschen Gefängnis. Mit 23 Jahren wurde er verurteilt. Weil er Drogen konsumiert und damit gedealt hat. "Das trifft dich wie ein Schlag", sagt er. Heute ist er vor allem eins – resigniert. Als er nach vier Jahren im Gefängnis eine alte Bekannte sieht, sagt sie: "Jetzt hast du hoffentlich was gelernt". Und so wie Daniels Bekannte denken viele Deutsche. Aber hat er das wirklich?
"Das ist doch die Gerechtigkeitsvorstellung der Gesellschaft. Du gehst in den Knast, sitzt deine Strafe ab und fertig", sagt Daniel. Schon in der Haft setzt er sich für seine Resozialisierung ein, möchte seine Sucht in den Griff kriegen. Er bittet die Haftanstalt um eine Therapie, um regelmäßige Urinkontrollen. Alles, was er bekommt, sind Absagen und Verweise auf lange Bewerbungsverfahren. "Du willst draußen wieder klarkommen. Bemühst dich, füllst Anträge aus und nichts passiert. Da arbeitet keiner auf deine Wiedereingliederung hin. Und falls du rückfällig wirst, will keiner Schuld sein."
Daniel ist kein Einzelfall. Für ihn ist klar: "Das ganze System ist ein einziges Blendwerk. Den Leuten draußen wird vermittelt: Der Staat kümmert sich. Aber hinter den Kulissen läuft das anders. Da sind viele, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist." Von flächendeckenden Resozialisierungsprogrammen keine Spur. Die Rückfallquote bei Straftätern, die eine Freiheitsstrafe verbüßt haben: 65 Prozent. Wiederholungstaten durch Knast verhindern? Fehlanzeige.
Nicht nur deshalb fordert Norbert Denef: Alle Gefängnisse abschaffen. Der Vorsitzende des Opferverbandes netzwerk b sagt: "Alle, die wir dort reinschicken, kommen viel schlimmer wieder raus, als sie reingegangen sind." Laut Denef erfüllen Gefängnisse nicht nur ihren Zweck nicht – sie tragen dazu bei, dass sich vieles verschlimmert: "Gewalt führt zu neuer Gewalt. Wir müssen diese Spirale durchbrechen."
Ab morgen: Hofgang für immer!
Wie wäre es eigentlich, das ganze Strafvollzugssystem auf einmal abzuschaffen? Die Idee: Alle Türen auf. Intensivtäter und psychisch Erkrankte werden in alternativen Projekten untergebracht. Projekte, in denen sie ihre Zeit sinnvoll nutzen können und passende Therapieangebote erhalten. All die Insassen, die wegen Kleindelikten sitzen, werden entlassen und zum zeitweiligen Dienst an der Gesellschaft verpflichtet.
Anwältin Lisa Grüter leitet den Arbeitskreis für kritischen Strafvollzug und sagt: "Ich denke etwa an gemeinnützige Arbeit und die Einbeziehung von Menschen in stützende Strukturen. Für die wenigen Fälle, in denen Menschen für die Allgemeinheit wirklich gefährlich sind, müssen alternative Formen geschaffen werden."
Und diese alternativen Formen gibt es schon. Pilotprojekte wie das norwegische Inselgefängnis "Bastoy" zeigen: Es geht auch anders! Hier leben knapp 100 Strafgefangene in offenen Wohneinheiten zusammen und kümmern sich gemeinsam um die Organisation und Erhaltung der Insel. Sie bauen Gemüse an, reparieren Zäune und kochen ihr eigenes Essen. Das liberale Konzept des Gefängnisses beinhaltet kaum Sicherheitsvorkehrungen. Die „Haft“ wird von den Insassen als Privileg empfunden. Und sie übernehmen Verantwortung für dieses Privileg. Wer jeden Tag in einer Gemeinschaft arbeiten und seinen Tagesablauf gestalten kann, wird aktiv auf das Leben außerhalb eines Gefängnisses vorbereitet.
Deutschland, deine Knäste
In Deutschland ist eine Haftstrafe nach wie vor eher reine Verwahrung als Resozialisierungshilfe. Insgesamt befinden sich derzeit ca. 57.000 Menschen im geschlossenen Vollzug. Was heißt das genau? Die Hafträume der Insassen werden verriegelt und täglich nur für einen kurzen Zeitraum geöffnet. Knapp ein Drittel der landesweit Verhafteten verbringt zunächst drei bis sechs Monate in Untersuchungshaft.
Dort sind die Bedingungen besonders hart. Eine Stunde „Hofzeit“ haben die Insassen täglich. Die restlichen 23 Stunden bleiben sie in ihren Zellen eingesperrt. Viel Zeit zum Nachdenken, aber auch viel Zeit für Frustration und Nichtstun.
Warum wir Menschen einsperren
Eine Haftstrafe soll in Deutschland auch immer einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen. Fehlverhalten, das die Allgemeinheit gefährdet, soll bestraft werden. Straftäter, die gewalttätig ins Leben anderer eingreifen, sollen verwahrt werden. Rainer Wendt, der Vorsitzende der deutschen Polizeigewerkschaft, sagt: "Auch wenn der moderne Strafvollzug den Gedanken der Resozialisierung in den Vordergrund rückt – der Schutzgedanke der Bevölkerung darf bei gefährlichen Straftätern nicht aus den Augen verloren werden."
Doch vor wie vielen Straftätern in deutschen Gefängnissen müssen wir wirklich geschützt werden? Die Öffentlichkeit bleibt in ihrem Urteil über Straftäter und deren Gefährlichkeit oft sehr undifferenziert, sagt der Vollzugshelfer Stefan Seefelder: "Ich halte es für hochgradig gefährlich, dem öffentlichen Rachegedanken nachzugeben. Die Unwissenheit der Öffentlichkeit über die Haftbedingungen führt zu dem Wunsch nach härteren Strafen."
Der Knast als Kriminalitätsspirale
Seefelder ist sich sicher: So, wie es ist, kann es nicht weitergehen. Er arbeitet ehrenamtlich als Vollzugshelfer in der JVA Tegel. "Das System ist stark überlastet", sagt er. "Was ich da sehe, ist eher die reine Verwaltung einer großen Menschenmenge." Für den Resozialisierungsgedanken sei wegen Personalmangel und fehlender Ressourcen überhaupt kein Platz. Nur knapp 3% der therapiebedürftigen Gewaltstraftäter bekomme tatsächlich einen Therapieplatz. Der Rest bleibe einfach unter Verschluss.
Dazu komme die Aufteilung der Insassen in Haftgruppen nach Delikten: "Das heißt: Da sitzen dann die Gewaltstraftäter mit anderen Gewaltstraftätern zusammen und prahlen im schlimmsten Fall mit ihren Taten." Wer wegen terroristischer Aktivitäten aufgefallen oder frisch aus Syrien zurückgekehrt ist, kommt auf einen Gang mit allen anderen Islamisten. "Wie soll man denn da noch eine Radikalisierung verhindern?", fragt Seefelder. Diese Tatsachen lassen für Anwältin Lisa Grüter zurzeit nur einen Schluss zu: "Der Strafvollzug ist ein System, das Menschen gedemütigt und verbittert entlässt."
Ob Insasse, Vollzugshelfer oder Opfer einer Straftat – die Zweifel an der Freiheitsstrafe generell und den deutschen Gefängnissen im Besonderen sind groß. Letztlich gibt es viele Stimmen im Gefängnis-Umfeld, die fordern: Schafft die Gefängnisse ab! Zumindest so, wie sie jetzt sind. Denn der Schutz der Gesellschaft und ein humanerer Strafvollzug sind keinesfalls ein Gegensatz. Sie gehen Hand in Hand.