Fragen und Antworten - Was Sie nach den Wahl-Pannen in Berlin jetzt wissen müssen

Do 30.09.21 | 17:50 Uhr
Zahlreiche Wählerinnen und Wähler warten im Stadtteil Prenzlauer Berg in einer langen Schlange vor einem Wahllokal, das in einer Grundschule untergebracht ist. (Quelle: dpa/Hauke-Christian Dittrich)
Bild: dpa/Hauke-Christian Dittrich

Auffällig viele ungültige Stimmen, Schätzungen statt Wahlresultaten, falsche Stimmzettel: Von einer "Superwahl" war die Rede, doch was am Wahlsonntag in Berlin passiert ist, lässt viele verwundert zurück. Antworten auf wichtige Fragen.

Was waren die Hauptprobleme bei den Wahlen in Berlin?

Vor manchen der 2.257 Wahllokale in den 78 Wahlkreisen mussten Wähler sehr lange anstehen. Stimmzettel fehlten zwischenzeitlich und mussten durch Boten gebracht werden. Auch das führte zu Verzögerungen. Zum Teil konnten daher Stimmen erst nach 18.00 Uhr abgegeben werden. An einigen Stellen erhielten Wähler falsche Stimmzettel aus anderen Bezirken oder Wahlkreisen, die später als ungültig gewertet wurden. Auch die Auszählung lief nicht überall glatt, wie Wahlhelfer rbb|24 berichteten. Bis Mitte der Woche lagen aus mehreren Wahllokalen im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf noch keine Ergebnisse vor, im Internet wurden geschätzte Zahlen veröffentlicht.

Wie viele Wahllokale oder Wahlkreise waren betroffen?

Das ließ sich bis Mitte der Woche nicht sagen. An einer Bestandsaufnahme wurde am Donnerstag noch aufwendig gearbeitet. Am Montag hatte die Landeswahlleitung von Problemen in etwa 100 Wahllokale gesprochen. Allerdings wurden seitdem immer mehr Berichte von Wählern und auch Wahlhelfern aus vielen Berliner Bezirken bekannt. Nach einer rbb|24-Datenauswertung sind in mindestens 99 Wahlbezirken auffällig viele Stimmzettel ungültig gewesen. Es geht um mindestens 13.120 Stimmen bei allen Wahlgängen.

Welche Ursachen hatten die Pannen?

Ein Grundproblem sei der Personalmangel in der Berliner Verwaltung, analysiert der Berliner Verwaltungswissenschaftler Stephan Bröchler im rbb-Interview. Er bildet an der Hochschule für Wirtschaft und Recht künftige Verwaltungsfachkräfte aus. "Es gab ganz offensichtlich große Probleme in der Planung und Koordination, die Abstimmung zwischen Landeswahlleitung und Bezirksämtern hat nicht funktioniert. Es wurde zu wenig kommuniziert zwischen diesen Stellen und es wurden keine Lösungswege gesucht. Jede Einheit hat vor sich hin gearbeitet, ohne sich auszutauschen und gemeinsam an einer Problemlösung zu arbeiten", sagt Bröchler.

Eine weitere Problemquelle waren die gleichzeitigen Wahlen zum Bundestag, zum Berliner Abgeordnetenhaus, zu den Bezirksparlamenten sowie ein Volksentscheid. Dazu kamen Corona-Bedingungen und Absperrungen wegen des Berlin-Marathons. Die Landeswahlleitung hatte mehr als 400 zusätzliche Wahllokale eingerichtet und die Zahl der Wahlhelfer von rund 20.000 auf 34.000 erhöht. Offenbar brauchten aber viele Wähler für ihre sechs Kreuze auf fünf Stimmzetteln deutlich länger als erwartet. Fünf bis zehn Minuten hätten manche Menschen in der Kabine verbracht, berichteten Beobachter der Deutschen Presse-Agentur. Dafür standen in vielen Wahllokalen zu wenig Wahlkabinen bereit.

Dass tagsüber Stimmzettel fehlten, lag zum Teil daran, dass die Wahlvorstände deutlich mehr Kartons als früher in ihr jeweiliges Wahllokal bringen mussten. Manche holten erst im Lauf des Tages restliche Kartons nach. Andere Stimmzettel-Kartons waren falsch beschriftet und wurden in falsche Wahllokale gebracht. Die Wahlleitung wusste früh davon, weil es schon beim Verschicken der Stimmzettel an Briefwähler aufgefallen war. Sie wies alle Wahlvorstände darauf hin. Die Warnung kam wohl nicht überall an.

Zudem hatten viele zusätzliche Wahlhelfer keine Vorerfahrung und erhielten nur eine kurze Unterweisung. Angesichts verschiedener Zählvorschriften sowie Corona-Regeln in kleinen Wahllokalen ließen sich Pannen kaum vermeiden. Aus der Landeswahlleitung hieß es dazu: "Es war ungeheuer schwierig mit dieser verbundenen Wahl, mit diesen unterschiedlichen Wahlberechtigungen, auf die man achten musste, bei der Stimmzettelausgabe und bei der Auszählung hinterher."

Wie sind die Pannen am Wahlsonntag zu bewerten?

Man müsse bei allem Ärger differenzieren, "ob es sich um reine Unannehmlichkeiten handelt, oder wirklich justiziable Wahlfehler vorliegen", sagte Verfassungsrechtler Christian Pestalozza rbb|24. Nur wenn Fehler in der Organisation dazu führen, dass man von seinem grundrechtlich verbrieften Stimmrecht nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen kann, kann laut Pestalozza eine Wahl anfechtbar sein. Gewisse Wartezeiten seien daher vor allem in Pandemie-Zeiten zu tolerieren. Das betonte auch die Landeswahlleiterin Petra Michaelis bei ihrer Pressekonferenz einen Tag nach der Wahl.

Jedoch ist ebenfalls klar, dass stundenlanges Warten vor allem Älteren ab einem gewissen Punkt nicht mehr zugemutet werden kann – und so auch das Stimmrecht vereitelt werden könnte. Timm Beichelt, Politikwissenschaftler an der Viadrina, bewertete gegenüber dem rbb insbesondere die Nichtverfügbarkeit von Stimmzetteln als kritisch. Auch sei eine neutrale Stimmabgabe nicht möglich, wenn trotz Prognose und Hochrechnungen Wahllokale bis 20.15 Uhr auf hätten. "Politikinteressierte Menschen könnten anders wählen, wenn sie schon Prognosen kennen", so Beichelt.

Wer ist verantwortlich?

Darüber wird in Berlin kontrovers diskutiert. Grundsätzlich hat die Landeswahlleitung die Verantwortung für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmungen. Landeswahlleiterin Petra Michaelis stellte ihren Posten am Mittwoch wegen der "Umstände der Wahldurchführung" zur Verfügung, was die designierte Berliner Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) als "folgerichtig" bewertete.

Auch für Verwaltungswissenschaftler Stephan Bröchler war der Rücktritt der Landeswahlleiterin "folgerichtig". Im Inforadio des rbb sagte Bröchler am Donnerstag: "Die Landeswahlleiterin trägt die Hauptverantwortung, für die Durchführung der Wahlen sind die Bezirkswahlämter zuständig. Der Innensenator hat die Rechtsaufsicht, aber nicht die Dienst- und Fachaufsicht", so der Verwaltungsexperte. "Diese drei Akteure spielen eine Rolle, aber die Eingriffsrechte des Innensenators sind bei einer demokratischen Wahl sehr begrenzt. Die Landeswahlleitung und die Bezirkswahlämter müssen ineinander greifen, und das hat hier nicht richtig funktioniert", so Bröchler.

Im Detail werden die Wahlen aber auf Ebene der Berliner Bezirke organisiert, die jeweils vergleichbar mit Großstädten sind. Die wiederum verweisen auf schlechte Ausstattung, gerade personell, durch den Senat. Dieser teilte wiederum mit, man sei in der Sache "eher Zuschauer", verkündete der Chef der Senatskanzlei, Christian Gaebler (SPD), jüngst.

Muss die Wahl wiederholt werden?

Bisher wird in der Berliner Politik wie auch den Wahlleitungen eher nicht davon ausgegangen, dass die Bundestags- oder Abgeordnetenhauswahl als Ganzes wiederholt werden muss. Der Staatsrechtler Christian Waldhoff von der HU-Berlin sagte am Mittwoch im rbb-Inforadio, dafür müsse eine sogenannte Mandatsrelevanz vorliegen - also eine Wahlverfälschung. Das sei in Wahlbezirken mit knappem Ausgang nach seinen Informationen der Fall und müsse jetzt geprüft werden. Rechtlich sei die Situation so, dass eine Wiederholung der Wahl nur dann denkbar werde, wenn sich herausstelle, dass die Wahlfehler Auswirkungen auf die Zusammensetzung des gewählten Parlaments haben.

Das könnte vor allem bei knappen Ergebnissen der Fall sein, wenn vergleichsweise viele Wähler korrekt abstimmen konnten. "Wenn der Abstand kleiner ist als die Zahl der falschen Stimmzettel, dann müssen wir nachwählen", nannte der Bezirkswahlleiter von Friedrichshain-Kreuzberg, Rolfdieter Bohm, ein Beispiel. Ob das der Fall war, steht noch nicht fest. So könnte es aber zu Nachwahlen in einzelnen Wahlbezirken oder -kreisen kommen.

Wann ist eine Wahl anfechtbar?

Grundsätzlich hat jeder Wähler und jede Wählerin die Möglichkeit, Einspruch gegen eine Wahl einzulegen, wenn er oder sie meint, dass gegen einen oder mehrere Wahlrechtsgrundsätze verstoßen wurde.

Dennoch: "Ein bloßer Wahlfehler führt nicht per se zu einer Anfechtbarkeit einer Wahl", sagt Rechtsexperte Pestalozza. Vielmehr sei es auch erforderlich, dass sich dieser Fehler wirklich auf die Zusammensetzung der Parlamente ausgewirkt hat – die sogenannte Mandatsrelevanz –, also wenn ein Kandidat vielleicht nur wegen dieses Wahlfehlers keinen Sitz im Abgeordnetenhaus bekommen hat. Chaos in einem Berliner Wahllokal könne für die Bundestagswahl vielleicht noch in der Masse der Wahlkreise untergehen. Für das Abgeordnetenhaus könnte das indes anders aussehen.

Wie und wann kann ich einen Einspruch gegen die Abgeordnetenhauswahl einlegen?

Es gibt verschiedene Einspruchsmöglichkeiten für alle Wahlberechtigten – je nachdem, ob es um die Bundestagswahl oder die Abgeordnetenhauswahl geht.

Geht es um die Abgeordnetenhauswahl, ist das Verfahren einstufig. Hier müssen die Einsprüche direkt an den Verfassungsgerichtshof Berlin gerichtet werden – ebenfalls schriftlich. Dort wird geprüft. Bei diesem Verfahren beginnt die Einspruchsmöglichkeit erst, wenn das offizielle Endergebnis der Wahl im Amtsblatt verkündet wurde. Damit wird aktuell für den 14. Oktober gerechnet. Danach haben Betroffene noch einen Monat Zeit.

Einen Anwaltszwang gibt es hier nicht. Das Verfahren ist auch kostenlos. Es empfiehlt sich aber vor dem Gang zum Gericht, sich erstmal an die Landes- oder Bezirkswahlleitung zu wenden. Denn die Eingabe an das Gericht unterliegt formal strengen Regeln.

Was geschieht, wenn der Einspruch erfolgreich ist?

Es kann dann dazu kommen, dass in dem betreffenden Wahlkreis oder Wahlgebiet eine Wahl wiederholt werden muss. Es ist jedoch noch nie vorgekommen, dass eine ganze Wahl zu Fall gebracht wurde. Aber auch die Wiederholung in nur kleinen Teilen kann für einige Betroffene und auch Abgeordnete wichtig sein, deren Einzug ins Parlament nur an wenigen Stimmen gescheitert ist. Auch sie könnten die Wahl in Teilen anfechten.

Wie sind die Reaktionen?

Die Probleme bei der Wahl lösten verschiedene Reaktionen bei Politikern aus. CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner forderte eine schonungslose Aufarbeitung. Ein derartiges "Wahldesaster, was es noch nie gab, was peinlich für Berlin ist", dürfe sich niemals wiederholen, sagte er kurz nach seiner Wahl zum CDU-Fraktionschef am Donnerstag.

Ähnlich äußerte sich CDU-Generalsekretär Stefan Evers. "Das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Demokratie hat in Berlin massiven Schaden genommen", sagte er der "Welt".

Der Spitzenkandidat der Freien Wähler in Berlin, Marcel Luthe, will die Bundestagswahl und die Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin überprüfen lassen. "Eine Wahlwiederholung erscheint mir unumgänglich", sagte der frühere FDP-Politiker der Online-Ausgabe von "Tichys Einblick".

Auch die Satire-Partei Die Partei äußerte sich zu den Pannen. Es gehe nicht um Manipulationen, sondern "um den ganz normalen Schlendrian der unfassbar provinziellen Berliner Verwaltung", sagte der Voristzende Martin Sonneborn. Die Partei bereitet nach eigenen Angaben eine Wahlprüfungsbeschwerde vor. "Wir haben gerade einen - sehr guten - Anwalt damit beauftragt, wegen der besonderen Häufung schwerwiegender Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in Berlin Wahlprüfungsbeschwerde einzulegen", so Sonneborn bei Twitter.

Die designierte Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) geht derweil nicht davon aus, dass es Neuwahlen in Berlin geben wird. "Ich glaube, dass jetzt sehr solide und vernünftig diese Dinge aufgearbeitet werden", sagte Giffey dem Fernsehsender "Welt". Wo Unklarheiten seien, werde nochmal nachgezählt.

Die Innenverwaltung hält derzeit wenig von der Idee, die Pannen bei der Wahl am Sonntag von einem Expertengremium untersuchen zu lassen. "Wir wären alle gut beraten, wenn wir die zuständigen Wahlorgane jetzt erst einmal ihre Arbeit machen lassen würden", sagte der Sprecher der Innenverwaltung, Martin Pallgen. Im Anschluss sei eine Fehleranalyse ganz sicher notwendig.

Wie geht es nun weiter?

Die Prüfung aller Ergebnisse in den Bezirken wird wegen der 1,8 Millionen gültigen Stimmen allein bei der Abgeordnetenhauswahl Zeit brauchen. Spätestens bis zur Sitzung des Landeswahlausschusses am 14. Oktober, auf der das endgültige Ergebnis festgestellt wird, dürfte mehr Klarheit herrschen. Dann erst wäre das Wahlergebnis der Abgeordnetenhauswahl anfechtbar. In diesem Fall müsste der Verfassungsgerichtshof angerufen werden. Bei der Bundestagswahl wäre es der Bundestag. Allerdings wies der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, darauf hin, dass nicht jeder Mangel eine Wahl ungültig mache.

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