Analyse der Wählerwanderungen - Nur 40 Prozent der Wähler blieben ihrer Partei treu

Di 03.09.19 | 07:41 Uhr | Von Robin Avram
Wählerwanderung von der SPD, Landtagswahl 2019 (Quelle: tagesschau)
Video: rbb|24 | Andrea Hübers | 03.09.2109 | Bild: tagesschau

Eine Analyse der Wählerwanderungen in Brandenburg fördert einige Überraschungen zutage: Die SPD verliert mehr Wähler an den Friedhof als an die AfD. Auch die gestiegene Wahlbeteiligung zahlt nicht nur auf das AfD-Konto ein.Von Robin Avram

Die Landtagswahl hat die politische Landschaft in Brandenburg durcheinandergewirbelt. Die Regierungsparteien SPD und Linke sowie die CDU mussten starke Verluste hinnehmen, AfD und Grüne legten stark zu. Den Parteistrategen wird das Wahlergebnis vermutlich noch viel Kopfzerbrechen bereiten - denn auf Stammwähler können sich alle Parteien immer weniger verlassen.  

Nur vier von zehn Brandenburger Wählern blieben der Partei treu, die sie bei der Landtagswahl vor fünf Jahren gewählt hatten - gut 60 Prozent der Wähler machten ihr Kreuz diesmal bei einer anderen Partei.

Auf dieser interaktiven Karte lassen sich die Wählerwanderungen nachvollziehen - mit Klick auf die jeweilige Partei.

Aus den Wählerwanderungen lassen sich folgende fünf Erkenntnisse destillieren:

1. Wer früher nicht wählte, wählte diesmal längst nicht nur die AfD

Im Vergleich zur Landtagswahl 2014 stieg die Wahlbeteiligung von 47,9 auf 61,3 Prozent. Das ist ohne Zweifel ein Erfolg für die Demokratie - und mit Blick auf die Wählerwanderungs-Zahlen auch ein wichtiger Grund für das starke Abschneiden der AfD.

Aber: Längst nicht jeder, der im Jahr 2014 dem Wahllokal fernblieb, machte diesmal sein Kreuz bei der AfD. Auch die SPD und die CDU konnten viele Nichtwähler an die Wahlurne locken. 

2. Die AfD holte sowohl im konservativen wie im linken Lager Stimmen

Die weitaus meisten Stimmengewinne konnte die AfD aus dem Lager der Nichtwähler rekrutierten - insgesamt 115.000 Stimmen. Anders ausgedrückt: Mehr als jeder dritte Brandenburger AfD-Wähler war bei der Landtagswahl 2014 gar nicht zur Wahl gegangen.

Der sogenannte Wanderungssaldo zeigt aber auch: Längst nicht nur enttäuschte CDU-Wähler machten diesmal ihr Kreuz bei der AfD. Auch SPD und Linke verloren zusammen fast genauso viele Stimmen an die Rechtspopulisten.

Roberto Heinrich von Infratest dimap begründet diese Stimmengewinne der AfD wie folgt: "Der Anteil derer, die sagen: 'Ich wähle die Partei aus Überzeugung', ist doch erkennbar gewachsen. Und wir stellen auch fest, dass der Partei vermehrt Sachkompetenzen zugewiesen werden." Dies betreffe die Themen Zuwanderung und innere Sicherheit - aber auch den Bereich soziale Gerechtigkeit. "Oder eben auch bei sogenannten Ostthemen, wenn es also darum geht, ostdeutsche Interessen zu vertreten."

3. Die SPD verlor mehr Wähler an den Friedhof als an die AfD

Die SPD hat zwar Federn gelassen bei der Landtagswahl - doch in realen Zahlen hat sie im Vergleich zur Landtagswahl 2014 sogar etwas mehr Wählerstimmen gewonnen. Weil diesmal mehr Menschen zur Wahl gingen, fiel ihr Stimmenanteil trotzdem kleiner aus.

Besonders viele Stimmen gewinnen konnte die SPD aus dem Lager der ehemaligen Nicht-Wähler - und auch viele frühere Linken-Wähler machten diesmal ihr Kreuz bei der SPD.

Besonders viele Wähler verloren hat die SPD - an den Friedhof. 32.000 Menschen, die vor fünf Jahren noch die Sozialdemokraten wählten, starben inzwischen, auf der anderen Seite des Altersspektrums gaben nur 7.000 Erstwähler der SPD ihre Stimme. Das macht unter dem Strich ein negatives Saldo von 25.000 Stimmen.

Und noch etwas ist auffällig: Zwar gaben viele Stammwähler der Linken - vermutlich aus strategischen Gründen - diesmal der SPD den Vorzug. An die Grünen verlor die SPD jedoch 8.000 Wähler. Ein möglicher Grund: Für 16 Prozent der Wähler spielte das Thema Umwelt und Klima für die Wahlentscheidung die größte Rolle - gleich häufig wurde nur das Thema soziale Sicherheit genannt, alle anderen Themen folgen dahinter.

4. Die Linke kann aus keinem Lager Stimmen gewinnen

Der Wahltag war für die Brandenburger Linke ganz besonders bitter: Keine andere Partei verlor prozentual so viele Stimmen. Von 18,6 Prozent im Jahr 2014 stürzte die Partei auf 10,7 Prozent.

Die These, dass der polarisierende Zweikampf zwischen SPD und AfD die Linke zerrieben hat, spiegelt sich in den Wählerwanderungen klar wider: 19.000 Stimmen verlor sie unterm Strich an die SPD, 11.000 Stimmen an die AfD. Auch die Grünen und die BVB/Freien Wähler jagten der Linken zusammen 17.000 Stimmen ab.

Für Roberto Heinrich von Infratest dimap zeigen diese Stimmenverluste in alle Richtungen, dass die Linkspartei ihren Status als Protestpartei eingebüßt hat. "Die Linkspartei hat sehr stark verloren bei Arbeitern und Arbeitslosen, bei wirtschaftlich Unzufriedenen - das sind eigentlich klassische Linken-Wahlsegmente gewesen. Das sind aber auch die Wählergruppen gewesen, wo die AfD besonders stark zugelegt hat."

5. Bei den Zuzüglern liegen die Grünen vorne

Seit der letzten Wahl im Jahr 2014 sind 192.000 Wahlberechtigte neu nach Brandenburg gezogen - viele von ihnen wohnten früher in Berlin. 155.000 Berliner zogen laut statistischem Landesamt seit 2014 nach Brandenburg. Wieviele Kinder und noch nicht wahlberechtigte Teenager unter 18 herausgerechnet werden müssen, erfasst die Statistik nicht.

Eindeutig mit Zahlen belegen lässt sich: In der Gruppe der zugezogenen Wahlberechtigten landen die Grünen klar auf Platz 1 - doch dahinter folgt auch schon die AfD, dicht gefolgt von CDU und SPD.

Das Klischee, der Wahlerfolg der Grünen in Brandenburg sei maßgeblich auf den hohen Stimmenanteil unter den Ex-Berlinern zurückzuführen, enthält also ein Körnchen Wahrheit - aber mehr auch nicht. In harten Zahlen: Wenn man die seit 2014 Zugezogenen aus dem Wahlergebnis herausrechnet, landen die Brandenburger Grünen statt bei 10,8 bei 9,7 Prozent - auch das wäre immer noch ein respektables Ergebnis.

Hinweis zur Methodik: Das Wanderungsmodell hat Infratest dimap für den rbb und die ARD erstellt. Die Wählerwanderungsströme zwischen den Parteien und die "Haltequoten" der Parteien werden dabei geschätzt. Grundlage sind amtliche Statistiken, repräsentative Umfragen vor der Wahl und am Wahltag sowie das Ergebnis der vorläufigen Auszählung am Wahlsonntag. In der Wählerwanderung werden aktuelle und frühere Nichtwähler berücksichtigt sowie Änderungen in der Zusammensetzung der Wählerschaft (zugezogene und weggezogene Wähler sowie neu hinzugekommene Erstwähler und verstorbene frühere Wähler).

Beitrag von Robin Avram

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