"Erst am Beginn einer Entwicklung" - Berlin rechnet mit mehr Geflüchteten aus der Ukraine
Ein Großteil der Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland fliehen, kommt in Berlin an. Die Regierende Bürgermeisterin will zwar nicht den Katastrophenfall ausrufen, fordert aber mehr Hilfe vom Bund. Darin wird sie von fast allen Fraktionen unterstützt.
Berlin rechnet mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Ukraine. "Wir sind erst am Beginn einer Entwicklung", sagte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) am Dienstag nach einer Senatssitzung. Täglich kämen derzeit im Schnitt 10.000 Menschen aus der Ukraine in Berlin an.
Es müsse aber damit gerechnet werden, dass noch mehr Menschen kämen: Bis zu einem Viertel der ukrainischen Bevölkerung könnte ins Ausland fliehen - also rund zehn Millionen Menschen. Bislang sind den Vereinten Nationen zufolge drei Millionen Menschen aus dem Land geflüchtet.
Giffey appellierte daher erneut an die "föderale Solidarität" der anderen Bundesländer und drängte auf eine bundesweite Koordinierung bei der Verteilung der Geflüchteten. Jede Nacht würden in Berlin rund 1.000 der Geflüchteten über die Landesstrukturen untergebracht, sagte sie - alle anderen Bundesländer zusammen nähmen nur etwa diesselbe Zahl an Menschen auf. Hintergrund ist dass der Königsteiner Schlüssel, der etwa bei Asylbewerbern zum Tragen kommt, bislang bei den Kriegsflüchtlingen nicht greift. Berlin sei im Vergleich zu anderen Bundesländern deutlich stärker belastet, so Giffey.
Fast alle Fraktionen fordern stärkere Unterstützung vom Bund
Auch die anderen im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien, mit Ausnahme der AfD, fordern von der Bundesregierung stärkere Unterstützung bei der Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine. In einer gemeinsamen Erklärung von SPD, Grünen, CDU, Linken und FDP heißt es, Berlin könne die Versorgung und Unterbringung der vor Krieg und Zerstörung Schutzsuchenden nicht allein bewältigen.
Die fünf Fraktionen würden sich dafür einsetzen, dass die Geflüchteten gerechter im gesamten Bundesgebiet verteilt werden. Von der Bundesregierung fordern die Regierungs- und Oppositionsparteien im Abgeordnetenhaus, dass sie sowohl finanziell als auch logistisch hilft.
Die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen erinnerten daran, dass es sich um die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg handele. Berlin sei eine solidarische Stadt, benötige aber dringend Unterstützung. CDU-Fraktionschef Kai Wegner sagte, seine Fraktion sei sich ihrer Verantwortung auch in der Opposition bewusst. Die Bewältigung dieser "humanitären Katastrophe" sei ohne Frage eine Aufgabe von nationaler Tragweite. FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja erklärte, die Bundesregierung müsse endlich den Rahmen für die Registrierung der Geflüchteten festlegen.
Ankunftszentrum am Flughafen Tegel
Ab dem Wochenende soll am ehemaligen Flughafen Tegel ein sogenanntes Ankunftszentrum seine Arbeit aufnehmen, in dem bis zu 7.500 Menschen übernachten können, aber auch beraten, registriert und von dort weiterverteilt werden sollen. Das Ankunftszentrum soll laut Senatskanzlei täglich bis zu 10.000 Geflüchtete registrieren und erstversorgen können.
Giffey sprach von einem großen logistischen Aufwand. Allein für die Fahrt vor allem vom Hauptbahnhof zum neuen Ankunfszentrum würden pro Tag um die 200 Busse benötigt. Zudem würden mindestens 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gesucht, um in dem Zentrum an bis zu 100 Schaltern einen Betrieb praktisch rund um die Uhr sicherzustellen. Dazu sucht der Senat aktuell Personal.
Giffey bittet in Rundbrief um Freiwillige aus Verwaltung
Benötigt würden für den 24-Stunden-Betrieb etwa 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Giffey baut dabei auf Freiwillige aus der Landesverwaltung, Unterstützung von Polizei und Feuerwehr, Personaldienstleister, Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie Angehörige von Bundespolizei und Bundeswehr.
Die Freiwilligen sollen ab 18. März jeweils rund drei Wochen in Tegel im Einsatz sein, heißt es in einem Schreiben der Regierenden Bürgermeisterin an Berliner Verwaltungsbeschäftigte. "Sie entlasten damit nicht nur Ihre Kolleginnen und Kollegen in den betroffenen Behörden, sondern leisten einen wichtigen Beitrag, Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine schnellstmöglich zu versorgen", so Giffey. Der Einsatz werde entlohnt, für Beschäftigte in höheren Tarifgruppen werde es Zuschläge geben. Auch für die Arbeit am Sonntag oder in der Nacht gebe es Zuschläge.
Auch das Landesamt für Einwanderung soll personell aufgestockt werden. Ziel sei es, allen Geflüchteten aus der Ukraine, die in Berlin aufgenommen werden, so schnell wie möglich einen Aufenthaltstitel zu erteilen, hieß es von der Senatskanzlei. Damit wird ihnen der Zugang zu Erwerbstätigkeit und Sozialleistungen ermöglicht.
Vorerst keine Ausrufung des "Katastrophenfalls"
Berlin befinde sich in einer "absoluten Ausnahmesituation", schrieb Giffey in dem Rundbrief. Zugleich lehnte sie es ab, angesichts der Herausforderungen den Katastrophenfall auszurufen. Das Berliner Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz biete bislang alle Möglichkeiten, sagte sie nach der Senatssitzung: von der Einrichtung von Krisenstäben, über Amtshilfe-Ersuchen bis hin zu Beschlagnahmungen, wenn nötig.
"Die jetzigen Möglichkeiten, die wir haben, sind noch nicht voll ausgeschöpft", sagte Giffey. Und auch in einer nächsten Phase, würde zunächst eine sogenannte Großschadenslage ausgerufen. Aber selbst dafür gebe es nach Einschätzung der aktuellen Situation keinen Anlass.
Giffey sagte, man müsse sich auch die Frage stellen, was durch die Ausrufung des Katastrophenfalls - wie von der CDU gefordert - besser werde. "Ich finde immer, wenn man schon am Anfang das stärkste Instrument nimmt, dann hat man nicht mehr so viele Möglichkeiten, um in einer Situation, die gegebenenfalls noch schwieriger ist, weitere Schritte zu gehen."
Sendung: Inforadio, 15.03.2022, 15:20 Uhr
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