Rollbergesiedlung Berlin - Mathildenviertel Offenbach - Wie man ein abgestürztes Quartier retten kann
In mehr als 40 Berliner Quartieren wohnen besonders viele arme Menschen – in der Reinickendorfer Rollbergesiedlung wird Armut gewissermaßen vererbt. Die Stadt Offenbach hat einen solchen Teufelskreis durchbrochen. Von J. Göbel und U. Barthel
Fast 6.000 Menschen wohnen in der Rollbergesiedlung in Reinickendorf. Viele hier sind arbeitslos, und die Kinderarmut liegt seit Jahren bei über 60 Prozent und mittlerweile vererbt sich die Armut von Generation zu Generation.
Doch nicht nur Armut prägt das Viertel, es verwahrlost auch zunehmend. Die Häuser wurden seit Jahrzehnten nicht saniert, die Fassaden sind grau - und wenn sich Putz löst, wird geflickt. Spielplätze und Grünanlagen brauchen dringend eine Überholung. Ratten und Müll sind ein großes Problem.
Dass sich in der Rollbergesiedlung etwas ändern muss, weiß auch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Senator Andreas Geisel (SPD) versprach Anfang des Jahres Unterstützung, seine Staatssekretärin Ülker Radziwill (SPD) ist nun schon zum dritten Mal in der Rollbergesiedlung. Sie ist in Geisels Verwaltung für die Quartiersentwicklung zuständig.
Das Quartiersmanagement ist in der Rollbergesiedlung seit 2021 im Aufbau. Land und Bezirk wollen hier einen Begegnungsort für die Menschen schaffen und lokale Initiativen unterstützen. Auf die Frage, wann es hier richtig losgehen soll, antwortet Staatssekretärin Radziwill: "Es braucht natürlich immer auch ein bisschen Zeit, bis sich das Team zusammenstellt." An einem Konzept, das jetzt umgesetzt werden soll, sei auch schon geschrieben worden.
Das gute Beispiel findet sich in Offenbach
Vielleicht lohnt sich ein Blick ins Mathildenviertel in Offenbach am Main – wenn auch eine Stadt mit 130.000 Einwohnern natürlich nur begrenzt mit der Millionenmetropole Berlin vergleichbar ist. Die Ausgangsposition des Mathildenviertels jedoch ist mit der der Rollbergesiedlung durchaus vergleichbar. Aber das ist 20 Jahre her.
"Zur Jahrtausendwende war das Quartier total runtergekommen", sagt Marcus Schenk, der sich hier mehr als zehn Jahre um das Quartiersmanagement gekümmert hat. "Es gab viele Brachen, Dreck, Drogen und Zerstörung." Durch gezielte Maßnahmen der Stadt und zusammen mit den Bewohnern habe sich das Mathildenviertel mit seinen10.000 Einwohnern inzwischen jedoch zu einem Wohnort entwickelt, der geradezu hip sei. Die Kinderarmut – eines der wichtigsten Indizien für die soziale Situation der Bewohner – geht zurück.
Ob Straßen, Plätze oder Häuser, hier habe sich alles verbessert, sagt Quartiersmanager Schenk. Neue Wohnungen entstanden, darunter auch Eigentums- und Studentenwohnungen. In einer alten Druckerei wurde Platz geschaffen für Start-ups, das lockte junge Leute ins Mathildenviertel. Auf den Wiesen am angrenzenden Mainufer stehen Liegestühle.
Besonders wichtig ist aus Sicht von Marcus Schenk ein lebendiges Quartiersmanagement. Hier entstand es am schönsten Platz im Kiez: "Es dauerte etwa drei Jahre, bis wir das Vertrauen der Menschen im Kiez hatten", sagt er über die Anfänge. Heute gibt es hier Sprachkurse, Lebensberatung, Kochabende, Graffiti-Workshops. Viele dieser Aktivitäten entstanden dann gemeinsam mit den Anwohner:innen.
Rollbergesiedlung: Mieter:innen werden selbst aktiv
Auch in der Rollbergesiedlung in Berlin-Reinickendorf gibt es aktive Mieter und Mieterinnen, aber sie fühlen sich von den PolitikerInnen im Stich gelassen – wie zum Beispiel Renate Thiele. Die Rentnerin sammelt regelmäßig Müll auf der Straße ein. "Ich kann es nicht ertragen, dass das Viertel immer mehr verschmutzt", sagt sie.
Mietersprecherin Elke Schmolt ruft immer wieder bei der Gewobag an, wenn Mieter:innen Probleme mit kaputten Fenstern oder mit der Heizung haben. Und im Kirchenzentrum „Face“ versuchen zwei Sozialarbeiterinnen mit Teilzeitstellen den hohen Beratungsbedarf tausender Menschen zu stillen. "Wir sind zu wenige", sagt Sozialarbeiterin Dorothea Schmidt "und wir haben nicht genügend Räume."
Offenbach hat Prioritäten gesetzt
In Offenbach haben sie Prioritäten gesetzt und für das Mathildenviertel Geld in die Hand genommen. Tatsächlich leistet sich die Stadt kein Theater und kein Hallenbad mehr und für die Straßenerneuerung steht auch nicht so viel Geld zur Verfügung. Dafür gibt es jetzt aber zum Beispiel genügend Kitaplätze im Mathildenviertel: Deren Anzahl wurde massiv aufgestockt, bei den Drei- bis Sechsjährigen beträgt die Abdeckung im Mathildenviertel 98 Prozent. Und es gibt dort extra Sprachunterstützung. Das ist wichtig, denn der Migrationsanteil im Mathildenviertel beträgt mehr als 90 Prozent.
Die Kinder erweitern in der Kita ihren Wortschatz und lernen, aktiv zu sprechen. Muhammad Taimoor Janjua, dessen Sohn hier in die Kita geht, erzählt: "Wir versuchen zu Hause auch Deutsch zu reden, ich und meine Frau. Aber wir haben bemerkt, seit unser Sohn in die Kita geht, hat sich seine Sprache sehr verbessert." Und Tuba Aydin, berichtet: "Meine Tochter ist seit September hier in der Kita und hat nur Türkisch gesprochen. Mittlerweile spricht sie sogar mit mir jetzt Deutsch."
"Trotz knapper Kassen wird am Aufbau und Ausbau von neuen Kindertagesstätten nicht gespart", sagt Susanne Pfau, die Leiterin des Kommunalen Jobcenters "Mainarbeit".
Rollbergesiedlung: Lehrerinnen können nicht alles ausgleichen
In der Berliner Rollbergesiedlung klagen Eltern, Sozialbetreuer, Lehrer und Lehrerinnen über fehlende Kitaplätze. 70 Prozent der Kinder in der "Grundschule in den Rollbergen" haben Sprach- oder Lernprobleme bei der Einschulung. "Ich gebe mir große Mühe und ich mag meine Arbeit sehr", sagt Lehrerin Angela Garling, "aber ich kann das nicht ausgleichen."
Obwohl die Schule wegen des hohen Förderbedarfs besser ausgestattet ist, bekommen hier nur 25 Prozent der Kinder eine Gymnasialempfehlung. Der Berliner Schnitt ist fast doppelt so hoch. Dabei gebe es hier genauso viele begabte und kluge Kinder, sagt die Lehrerin, aber sie hätten nicht die gleichen Chancen. Es mangelt an Lehrern und Erziehern, die die Defizite, unter denen die Kinder aufwachsen, ausgleichen können. Hilfen für die Familien, von denen Eltern und Kinder gleichermaßen profitieren.
Offenbach unterstützt gezielt
In Offenbach gibt es schon seit Jahren ein breit angelegtes Förderpaket für Menschen, die Unterstützung brauchen. Der Anstoß kam vor fast zwanzig Jahren vom Jobcenter. "Die Arbeitslosenquote war hoch", sagt die heutige Leiterin Susanne Pfau. Die Stadt habe beschlossen, Langzeitarbeitslosen nicht nur Sozialhilfe zu zahlen, sondern sie besser zu unterstützen, um sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. "Unser Ziel war, die Arbeitslosenquote kontinuierlich nach unten zu bringen und auch die Sozialstruktur zu verbessern, also die Lebensverhältnisse insgesamt zu verbessern."
Deshalb gibt es auch viele Angebote für Menschen in schwierigen Lebenslagen. In den Schulen werden notorische Schwänzer aus dem Regelschulbetrieb rausgenommen und in kleinen Gruppen unterrichtet. Langzeitarbeitslose können im Sozialkaufhaus Luise den Umgang mit Kund:innen erlernen und werden auf eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt vorbereitet. Oder sie arbeiten als sogenannte Rundgänger, erfassen und sammeln Müll im Quartier.
Mike Hirsch ist seit fast einem Jahr dabei. "Am Anfang hatte ich Bammel, in ein richtiges Arbeitsleben reinzugehen", sagt er, "aber jetzt nicht mehr. Ich bin gerade dabei, Bewerbungen zu schreiben". Durch all diese Maßnahmen ging die Arbeitslosigkeit zurück und damit auch die Kinderarmut. Das Viertel wurde reicher, Eltern und Kindern wurden Zukunftschancen eröffnet.
Rollbergesiedlung: Rundumsanierung liegt in weiter Ferne
In der Berliner Rollbergesiedlung haben die Menschen bisher kaum Unterstützung, wenn es um die Bewältigung des Alltags geht. Es mangelt an Angeboten zum Beispiel bei Schulproblemen, Jobsuche, gesundheitlichen Sorgen oder Sprachschwierigkeiten.
Der Frage, warum solche Angebote bisher kaum vorhanden sind, weicht Staatssekretärin Ülker Radziwill aus. Sie spricht lieber von der Zukunft: "Hier braucht es Unterstützung. Und es ist gut, dass wir jetzt hier sind und vor Ort Dinge entwickeln."
Wann das lange geplante Gemeindezentrum mit Kita gebaut wird, kann Radziwill nicht sagen. Ebenso wenig, wann die dringend notwendige Sanierung der Rollbergesiedlung beginnt - all dies sei aber in Planung, sagt sie.
Eigentümer ist seit 2019 die Landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. In diesem und dem nächsten Jahr werde in Heizungen und Fahrstühle investiert, heißt es auf Anfrage. Von einer Rundumsanierung des Viertels sei jedoch in den nächsten Jahren nicht auszugehen. Offen ist auch, ob und wann für neue Anwohner gebaut wird, auch um die Sozialstruktur zu verbessern.
Platz und Pläne für Neubauten gibt es. Voraussetzung ist auf alle Fälle erstmal eine bessere Infrastruktur. In Offenbach hat man durch Neu- und Umbaumaßnahmen damit Erfolg gehabt.
Eine Aufgabe für mindestens zehn Jahre
Im Mathildenviertel habe es auch keine Verdrängung gegeben, sondern eine Aufwertung, so Quartiersmanager Marcus Schenk. Die Mischung habe sich verbessert, weil jetzt mehr Menschen Arbeit hätten - und damit ein richtiges Einkommen. "Jemanden in Arbeit zu bringen und eine wirtschaftliche Stabilität in eine Familie zu bringen, ist der beste Weg, das Zusammenleben in einer Gesellschaft zu verbessern", sagt er.
Vor kurzem hat Schenk in einem anderen Offenbacher Viertel das Quartiersmanagement übernommen. Man brauche einen langen Atem für diese Aufgabe und sehr viel Zeit: "Das dauert mindestens zehn Jahre."
Sendung: Kontraste, Das Erste, 16.06., 21:45 Uhr