Geflüchtete in Berlin - "Ich träume davon, legal arbeiten zu können - und von einer eigenen Wohnung"
In Berlin kommen Geflüchtete verschiedenster Nationalitäten an. Die Geschichten vieler Menschen sind dramatisch, sie brauchen dringend Hilfe – aber die Unterkünfte sind voll, die Kapazitäten erschöpft. Von Oda Tischewski
Nasima* ist 24. In Afghanistan haben sie und ihr Mann als Journalisten gearbeitet, dann kamen die Taliban zurück. Zusammen mit dem kleinen Sohn musste das Paar seine Heimat verlassen, die erste Station war Polen. Seit zehn Monaten leben sie nun im Marie-Schlei-Haus, einer Unterkunft der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Reinickendorf, wo auch Nasimas zwei Schwestern und ihr Bruder untergebracht sind.
Wie geht es nun weiter? "Wenn die Lage in Afghanistan besser und die Taliban weg wären, würde ich sehr gern wieder zurückkehren", erzählt Nasima, "Wenn das nicht geht, träume ich davon, dass wir hier bleiben und legal arbeiten können, dass mein Sohn in die Kita geht und wir eine eigene Wohnung finden."
Wunsch nach Privatsphäre
Eine eigene Wohnung, davon träumen wohl alle 195 Bewohner des Marie-Schlei-Hauses. Nach Ankunftszentrum und Aufnahmeeinrichtung ist die Gemeinschaftsunterkunft ihre dritte Station, meist sind sie zu diesem Zeitpunkt schon seit einem halben Jahr in Berlin – entsprechend groß ist der Wunsch nach Privatsphäre. Doch ihre Chancen stehen schlecht: Der Berliner Wohnungsmarkt ist schon für Menschen mit deutschem Pass und Vollzeitstelle schwer zu knacken.
Und viele im Marie-Schlei-Haus haben gar keine Aussicht auf einen Aufenthaltstitel: Sie kommen aus der Republik Moldau oder aus Georgien und gehören zu den Roma, die dort diskriminiert werden - als Asylgrund reicht das in Deutschland allerdings nicht aus. So bleibt die Gemeinschaftsunterkunft, bis sie entweder abgeschoben werden oder einer Abschiebung durch freiwillige Ausreise zuvorkommen.
Hälfte der Bewohner Kinder
Das Marie-Schlei-Haus am Reinickendorfer Eichborndamm ist ein sechsstöckiger Zweckbau mit einer metallenen Feuertreppe an der Fassade und einem kleinen Spielplatz. Bis vor einigen Jahren lebten hier Senioren, die Aufzüge und die rollstuhlgerechten Durchgänge erinnern noch daran. Dann wurde das Haus zur Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber umgebaut - aber auch die brauchen die breiten Türen, denn als Heim für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge beherbergt das Marie-Schlei-Haus vorrangig Kranke und Behinderte, Schwangere, aber auch Opfer von Folter und Misshandlungen. Etwa die Hälfte der Bewohner sind Kinder.
Bearbeitung von Anträgen zieht sich hin
"Viele Leute kommen sehr krank hier an", erzählt Jonas Feldmann, der Leiter des Marie-Schlei-Hauses. "Aus der Republik Moldau haben wir einen hohen Anteil von Menschen mit Roma-Hintergrund – Menschen, die oft keine Gesundheitsversorgung in ihren Heimatländern haben. Wir haben auch viele Fälle von Menschen, die sehr, sehr spät kommen, teilweise zu spät, und die mehr oder weniger dann zum Sterben in Deutschland sind."
Den anderen, meist jungen Familien, helfen Feldmann und seine Mitarbeiter bei der Suche nach Kitaplätzen, beim zähen Kampf um eine durchgehende Krankenversicherung oder bei Konflikten mit der Schule. Oft zieht sich die Bearbeitung von Anträgen oder Widersprüchen wochen- oder monatelang hin, Leben in der Unterkunft bedeutet vor allem: Warten – und das raubt Energie.
LAF immer auf der Suche nach neuen Immobilien
Derweil kommen in Berlin täglich weitere Geflüchtete an: Im Jahr 2021 waren es etwa 7.800, die dauerhaft in der Stadt blieben – eine Zahl, die in diesem Jahr sicher überschritten werden wird. "Ehrlich gesagt ist es so, dass wir jetzt im Herbst wirklich an das Ende der Fahnenstange geraten", sagt Sascha Langenbach vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). "Wir haben einfach keine Plätze mehr, weder in Aufnahmeeinrichtungen noch in Gemeinschaftsunterkünften wie dem Marie-Schlei-Haus."
Gemeinsam mit gemeinnützigen Trägern wie Diakonie, Arbeiterwohlfahrt oder Berliner Stadtmission betreibt das LAF in Berlin knapp 90 Flüchtlingsunterkünfte. Und weil die alle ausgelastet sind, sind Sascha Langenbach und seine Kollegen ständig auf der Suche nach weiteren Immobilien, die sich als Unterkünfte eignen würden. "Der Berliner Immobilienmarkt bringt aber kaum geeignete Objekte hervor. Das ist in Berlin im Moment ein ganz, ganz hartes Brot, was man da zu kauen hat."
Günstiger Wohnraum fehlt
Verschärft wird die Situation noch durch das, was im Frühjahr als Notlösung begann und nun die Grenzen von Geduld, Mitgefühl und Toleranz erreicht hat: Die private Unterbringung von Frauen und Kindern, die vor den russischen Angriffen aus der Ukraine geflüchtet sind. "Es sind sehr viele Menschen, die im Moment die vorübergehende Unterkunft, die von Freunden, Verwandten, deutschen Nachbarinnen und Nachbarn bereitgestellt wurde, verlieren, weil man dort einfach sehr eng und prekär gelebt hat", so Langenbach, "Wir haben aber keine günstigen Wohnungen in Berlin. Nicht in der Masse, wie wir sie brauchen würden. Aber es gibt sehr viele Menschen, die jetzt im Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel ankommen und sagen, wir sind quasi vom Sofa gefallen – es geht nicht mehr."
Status ohne Perspektive
Auch die Lage von Nasima und ihrem Mann ist ungeklärt. Weil sie auf der Flucht aus Afghanistan zunächst in Polen registriert wurden, müssten sie laut dem Dublin-Abkommen eigentlich dorthin zurückkehren, um Asyl zu beantragen - doch Nasima möchte nicht wieder ohne ihre Familie leben. Ihr sei es in Polen schlecht gegangen, erzählt sie, keine Familie, kaum andere Ausländer, schon gar keine Afghanen.
Weil Polen bereits viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen hat, schiebt Deutschland dorthin momentan kaum ab. Im Moment sind Nasima und ihr Mann hier geduldet, doch der Status ohne die Perspektive, bleiben oder gar arbeiten zu können, belastet das Paar. Die Deutschkurse, die sie besuchen, bezahlen sie aus eigener Tasche. Wie es weitergehen wird, wissen die beiden nicht.
* Name von der Redaktion geändert
Sendung: rbb24 Inforadio, 11.10.2022, 08:20 Uhr