Berliner Wahlchaos zur Bundestagswahl - Verfassungsrechtler: Nachwahl nur nötig, wenn Pannen mandatsrelevant waren
Das Chaos bei der Bundestagswahl in Berlin wird Juristen noch lange beschäftigen. Vor einer teilweisen Neuwahl stehen noch einige Hürden. Die betroffenen Wähler hätten aus Sicht eines Verfassungsrechtlers einen taktischen Vorteil.
Eine Nachwahl zum Bundestag wird es in Berlin wohl nur geben, wenn die Pannen am Wahltag im vergangenen September das Ergebnis maßgeblich beeinflusst haben. Zu dieser Einschätzung kam der Verfassungsrechtler Christian Pestalozza von der FU Berlin am Freitag auf Anfrage des rbb.
Die Menge an Pannen und Fehlern, von denen viele inzwischen gut dokumentiert sind, reiche allein nicht aus, so Pestalozza. Nur, wenn dadurch die Sitzverteilung im Bundestag verändert wurde, sei eine Nachwahl in einzelnen Wahlbezirken oder gar eine komplette Neuwahl zulässig. "Wenn das nicht der Fall ist, darf die Wahl wegen der Fehler nicht wiederholt werden", sagte er.
Das Bundesverfassungsgericht könnte dann lediglich feststellen, dass die Rechte einzelner Wähler verletzt wurden – etwa, wenn sie nicht wählen konnten, weil das Wahllokal wegen fehlender Stimmzettel zwischenzeitlich geschlossen war, wie es in Berlin der Fall war.
Wähler könnten taktisch wählen
Zwar habe es in der Vergangenheit bereits Wahlwiederholungen in Deutschland gegeben, allerdings nur wenige. Das habe auch mit dem enormen Aufwand zu tun, so der Verfassungsrechtler Pestalozza.
Zudem gebe es auch Argumente aus demokratischer Sicht: So könnten Wähler, die bei einer Nachwahl abstimmen können, taktisch wählen, um das Ergebnis der vorangegangenen Wahl gezielter zu beeinflussen, sagte Pestalozza. "Der aktuelle Wähler weiß besser, wie der Erfolg seiner Stimme sein wird." So würden dann zum Beispiel bei einer teilweisen Nachwahl die Wähler:innen in einigen Wahlbezirken eine zweite Chance zum Abstimmen erhalten, mit dem Wissen, wie die vorangegangene Wahl ausgegangen ist.
Entscheidung über Nachwahlen wohl im Oktober
Dass die zahlreichen Wahlpannen am 26. September 2021 mandatsrelevant sein könnten, ist zumindest wahrscheinlich. So sagte der SPD-Obmann im Wahlprüfungsausschusses des Bundestages, Johannes Fechner, am Freitag dem rbb, dass den Sozialdemokraten nur 800 Zweitstimmen gefehlt hätten, um einen weiteren Sitz im Bundestag zu bekommen.
Ob es zu einer möglichen Neu- oder Nachwahl in Berlin kommt, entscheidet sich zunächst im Wahlprüfungsausschuss des Bundestages. Dieser gibt eine Empfehlung ab, die vom Bundestag abgesegnet werden muss. Nach rbb-Informationen ist mit dieser Entscheidung im Oktober zu rechnen. Die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP haben sich laut Fechner geeinigt, eine Beschlussempfehlung für Neuwahlen auf den Weg zu bringen.
Schon jetzt rund 1.300 Beschwerden
Bereits heute liegen dem Wahlprüfungsausschuss rund 1.300 Beschwerden von Bürgern vor, so Fechner. Dass es Verfassungsklagen gegen das Berliner Ergebnis der Bundestagswahl geben werde, sei damit sehr wahrscheinlich.
Einspruchsberechtigt sind laut Gesetz Abgeordnete, deren Wahl bestritten wird, eine Fraktion oder eine Minderheit des Bundestages, die wenigstens ein Zehntel der gesetzlichen Mitgliederzahl umfasst, sowie auch einzelne wahlberechtigte Personen.
Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Wahlpannen Auswirkungen auf die Sitzverteilung hatten, werden die Karlsruher Richter wohl sehr schnell ein Urteil fällen. Erklären sie die Nachwahl für zulässig, muss diese im Anschluss innerhalb von maximal 60 Tagen durchgeführt werden.
Sendung: rbb24 Abendschau, 08.07.22, 19:30 Uhr