Fehler während der Ermittlungen? - U-Ausschuss zur Neuköllner Anschlagsserie nimmt Arbeit auf

Do 16.06.22 | 06:18 Uhr | Von Jo Goll, rbb24 Recherche
Ein brennendes Fahrzeug steht am 01.02.2018 in Berlin-Neukölln in der Garage von Linken-Politiker Ferat Kocak. (Quelle: dpa/Die Linke Berlin/Ferat Kocak)
Video: rbb24 Abendschau | 16.06.2022 | Pablo Gallo Mejias | Bild: dpa/Die Linke Berlin/Ferat Kocak

Wie konnte es zu den rechtsextremen Anschlägen in Berlin-Neukölln kommen? Wer steckt dahinter? Welche Fehler haben Sicherheitsbehörden gemacht? Die Erwartungen an den Untersuchungsausschuss, der am Donnerstag startet, sind hoch. Von Jo Goll

Wenn Ferat Kocak durch die Straße geht, in der er viele Jahre seiner Jugend verbracht hat, kommen die Gedanken an die Nacht zum 1. Februar 2018 sofort zurück: lodernde Flammen direkt vor seinem Fenster; die Angst um seine Eltern, die im Erdgeschoss schlafen. Kocak rennt die Treppe runter, ruft die Feuerwehr und beginnt seinen brennenden Smart in der Einfahrt zu löschen. Die Ereignisse dieser Nacht hallen nach - bis heute: "Wenn ich hier auf den Straßen laufe, dann bin ich angespannt und schaue mich mehrmals um, wenn Autos an mir vorbeifahren. Es ist einfach dieses Gefühl, die Gefahr lauert", erzählt Kocak, der inzwischen für die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt.

Die Kocaks hatten Glück im Unglück: Die Flammen greifen schnell auf die Garage über, wo die Gasleitung liegt. Wäre Kocak mit seinem Feuerlöscher nur wenige Augenblicke später zur Stelle gewesen, wäre es wohl zu einer Explosion gekommen. Seine Mutter erleidet kurze Zeit später einen Herzinfarkt, womöglich auch, weil sie erst da erfuhr, dass der Anschlag auf das Auto ihres Sohnes ein rechtsextremes und fremdenfeindliches Motiv hatte.

Aufklärung ist gefragt

Im Mai 2022 wurde Kocak in den parlamentarischen Untersuchungsausschuss Neukölln des Abgeordnetenhauses gewählt. Dort will er künftig gemeinsam mit seiner Fraktion für Aufklärung sorgen. Der Ausschuss, für dessen Einsetzung sich die Linksfraktion schon in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder stark gemacht hatte, beginnt seine Arbeit am Donnerstagnachmittag mit der konstituierenden Sitzung.

Das Gremium soll sich mit der Serie von rechtsextrem motivierten Straftaten befassen, die den Bezirk seit Jahren in Atem halten und auch überregional für Schlagzeilen gesorgt haben: brennende Autos, eingeschlagene Fensterscheiben, gesprengte Briefkästen, Beleidigungen, Drohungen - alle zum Nachteil von Bürgern und Bürgerinnen, die sich oft über Jahre gegen Rechtsextremismus engagieren.

Warum warnten die Sicherheitsbehörden Kocak nicht?

Ferat Kocak beschäftigt bis heute eine Frage: "Warum wurde ich nicht vorab von den Sicherheitsbehörden gewarnt, obwohl es ganz klare Bedrohungen von rechts gegen mich gab?" Polizei und Verfassungsschutz hatten in seinem Fall über Wochen und Monate zwei Rechtsextremisten fest im Visier, hörten sogar mit, als diese Kocak überwachten und ausspähten, bis sie schließlich sein Auto und seine Adresse herausfanden. Dann brannte Kocaks Wagen. Niemand schritt vorher ein, niemand warnte ihn. "Ich möchte endlich wissen, warum das alles so geschehen ist", sagt Kocak im Gespräch mit rbb24 Recherche.

Die mutmaßlichen Täter sind den Behörden seit Jahren bekannt und müssen sich ab Ende August vor Gericht für diese und weitere Taten verantworten. Am Dienstag hat das Amtsgericht Tiergarten die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft zugelassen. Thilo P. und Sebastian T. gelten den Ermittlern in der Neuköllner Anschlagsserie, die nach Polizeiangaben allein zwischen 2016 und 2019 mindestens 72 Straftaten umfasst, als Hauptverdächtige. Doch wahrscheinlich sind die beiden nicht für die alle Straftaten der Serie verantwortlich, Ermittler gehen von einem Netzwerk von 12 bis 15 Personen aus, das hinter den Taten stecken könnte.

Darf ein Betroffener im Ausschuss mitwirken?

Dass Ferat Kocak als Betroffener jetzt stellvertretendes Mitglied des Untersuchungsausschusses ist, halten die Verteidiger von T. und P. für einen Gesetzesverstoß. Mirko Röder, ein erfahrener Strafverteidiger, empört sich darüber, dass Kocak – wenn auch nur als Stellvertreter – im Ausschuss Zugang zu allen Akten hat. "Herr Kocak wird als Abgeordneter Sonderwissen erlangen und dies natürlich ganz zwangsläufig in den Strafprozess als Zeuge einbringen wollen. Das verletzt in eklatanter Art und Weise die Rechte der Angeklagten", sagt Röder und fordert deshalb, dass der Abgeordnete Kocak vom Untersuchungsausschuss ausgeschlossen wird. "Andernfalls werden wir die Angelegenheit bis vor den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin bringen", kündigt Röder im Gespräch mit rbb24 Recherche an.

Ein Fall fürs Verfassungsgericht?

Röder begründet seine Forderung mit dem Berliner Gesetz über Untersuchungsausschüsse. Dort heißt es: "Ein Mitglied des Abgeordnetenhauses, das an den zu untersuchenden Vorgängen nicht unerheblich beteiligt ist oder war, darf dem Untersuchungsausschuss nicht angehören." So steht der Untersuchungsausschuss nach jahrelangen Diskussionen über seine Einsetzung gleich zu Anfang mehrfach unter Druck: Zuerst fielen die AfD-Mitglieder zweimal im Parlament durch, jetzt könnte er ein Fall fürs Verfassungsgericht werden – oder der Ausschuss entscheidet selbst mit Zweidrittelmehrheit gegen die Teilnahme Kocaks.

Ferat Kocak dagegen sieht in seiner Beteiligung als Abgeordneter im Ausschuss kein Problem. Die Anschlagsserie dauere schon 13 Jahre an, es gehe um viel mehr als nur um seinen Fall, sagt er. Als antifaschistischer Sprecher der Linksfraktion könne er mit seiner Erfahrung bei all den anderen Fällen "objektiv dazu beitragen, dass es eine Aufklärung gibt und dass so ein Untersuchungsausschuss auch vorankommt". Wenn es dann um ihn und um seinen Fall gehen wird, könne er sich jederzeit zurückziehen, kündigt Kocak an.

Viele Opfer wurden um den Schlaf gebracht

In der Tat: In diesem Untersuchungsausschuss geht es nicht nur um Ferat Kocak und den Brandanschlag auf sein Auto. Es sind viele Betroffene, die wissen wollen, wer ihre Autos angezündet oder Steine in ihre Fensterscheiben geworfen hat. Es geht um Menschen, die seit Jahren um ihre Sicherheit fürchten, die sich seit langem durch immer wiederkehrende Drohungen um den Schlaf gebracht sehen.

Wie beispielsweise Mirjam Blumenthal. Sie hat gelernt, mit der Angst zu leben. Die vierfache Mutter wurde am Telefon von Neonazis schon mehrfach bedroht. Auch das Auto der Blumenthals wurde angezündet. Die Neuköllner SPD-Kreisvorsitzende fürchtet vor allem um die Sicherheit ihrer Familie und will unbedingt wissen, ob möglicherweise auch durch Polizeibeamte Informationen an die Tatverdächtigen geflossen sind. "Wir müssen alles dafür tun, dass die wenigen Polizisten, die in irgendeiner Weise mit der rechten Szene verzahnt sind, nicht weiter in der Behörde arbeiten dürfen", sagt Blumenthal und spielt damit unter anderem auf ein mutmaßliches Treffen des LKA-Beamten W. mit dem inzwischen angeklagten Neonazi Sebastian T. in einer Neuköllner Fußballkneipe an. rbb24 Recherche hatte darüber im März 2019 berichtet.

Mögliche Verstrickungen von Polizeibeamten in die rechte Szene

Auch die möglichen Verstrickungen des Polizeibeamten Detlef M. in die rechtsextreme Szene beschäftigen die Betroffenen. Gegen den Polizeihauptkommissar wird derzeit vor dem Amtsgericht Tiergarten verhandelt. Er stand in einer rechtsextremen Chat-Gruppe mit dem Neonazi und langjährigen AfD-Mitglied Thilo P. in Verbindung, der Ermittlern als Hauptverdächtiger der Anschlagsserie gilt.

Vor diesem Hintergrund wünscht sich der Buchhändler Heinz Ostermann vor allem Transparenz und Offenheit der Sicherheitsbehörden im Untersuchungsausschuss. Nur wenn diese alle relevanten Akten zur Verfügung stellten, könne der Ausschuss erfolgreich sein. "Wenn nicht mit offenen Karten gespielt wird, wenn Akten nur bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt geliefert werden, wird man das verloren gegangene Vertrauen in die Sicherheitsbehörden nicht wieder herstellen können", sagt der Mann, dessen Auto schon zwei Mal von Rechtsextremisten angezündet wurde.

Beteiligung der AfD macht die Opfer wütend

Allen Betroffenen der Anschläge stößt indes sauer auf, dass die AfD im Ausschuss mit am Tisch sitzt. "Das ist in etwa so, als wenn die Feuerwehr Brandstifter einstellen würde", sagt Detlef Fendt. Der Gewerkschafter, dessen Auto ebenfalls mutmaßlich von den Neonazis in Brand gesetzt wurde, erwartet vom Untersuchungsausschuss vor allem, dass er klärt, wer die Hintermänner der Anschläge sind. Und auch er will wissen, "welche Versäumnisse es bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft gegeben hat". Fendt befürchtet, dass die AfD, die er für den "parlamentarischen Arm der Rechtsextremisten" hält, dabei keinen Beitrag leisten wird.

Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses gehen jetzt mit gemischten Gefühlen an die Arbeit. Alle Fraktionen haben Bauchschmerzen wegen der Beteiligung der AfD. Doch die parlamentarischen Spielregeln des Untersuchungsausschussgesetz sehen eine Beteiligung aller im Abgeordnetenhaus vertretenen Fraktionen vor, da blieb kein Spielraum. Im dritten Anlauf wählte das Plenum schließlich widerwillig die AfD-Vertreter in den Ausschuss.

Abgeordnete gehen mit Elan an die Arbeit

Umso mehr wollen jetzt die Grünen Ergebnisse in der mehrjährigen Ausschussarbeit erzielen. Am Ende sollten "generelle Handlungsempfehlungen für die zukünftige Arbeit im Kampf gegen Rechts stehen", findet etwa der grüne Abgeordnete André Schulze. Er will vor allem "die Bedeutung rechtsextremer Netzwerke in Neukölln und Berlin für die Straftatenserie seit 2009 in den Blick nehmen". Das jahrzehntelange, relativ ungestörte Wachstum rechtsextremer Strukturen habe die Entwicklung von Tatmustern erst ermöglicht, findet Schulze.

Auch der Linke Abgeordnete Niklas Schrader sieht einen Schwerpunkt der Ausschussarbeit in der Frage, "inwieweit es schon frühzeitig Erkenntnisse über ein extrem rechtes Netzwerk in Neukölln mit überregionalen Verbindungen gab". Den Linke-Politiker beschäftig außerdem die Frage, wie sich die Tatverdächtigen und ihr Umfeld "so lange so sicher fühlen konnten". Zudem will Schrader geklärt sehen, "ob über Verstrickungen zwischen Angehörigen der Sicherheitsbehörden in die rechte Szene Informationen an die Tatverdächtigen geflossen sind, die Taten ermöglicht oder Ermittlungen verhindert haben".

Orkan Özdemir von der SPD richtet den Blick derweil auf den Bereich Opferhilfe und Opferschutz. Ihn beschäftigt vor allem die Frage, ob Polizei und Staatsanwaltschaft in diesen Fragen neue Konzepte erarbeitet haben. Diese Fragen, so Özdemir, seien bislang "sehr unterbelichtet". Stefan Förster von der FDP sieht die Vorfälle in Neukölln durch die Berliner Polizei "mittlerweile inhaltlich ganz gut aufgearbeitet", will aber das erschütterte Vertrauen der Betroffenen in die Sicherheitsbehörden "durch eine konsequente und nachvollziehbare Aufarbeitung der Vorgänge wieder herstellen".

Sendung: rbb24 Abendschau, 16.06.2022, 19:30 Uhr

Beitrag von Jo Goll, rbb24 Recherche

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