Interview | 100 Tage Franziska Giffey - "Es geht immer darum, auch aus schwierigen Situationen etwas zu machen"

Di 29.03.22 | 06:02 Uhr
Franziska Giffey (SPD) stellt sich bei einer Pressekonferenz in Berlin den Fragen von Journalisten. (Quelle: dpa/Wolfgang Kumm)
Audio: Inforadio | 28.03.2022 | Interview mit Franziska Giffey (SPD) | Bild: Wolfgang Kumm/dpa

In ihren ersten 100 Tagen als Regeriende Bürgermeisterin haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine für Franziska Giffey den Takt vorgegeben. Wie sie Berlin auf die Zukunft vorbereiten will, sagt sie im Interview.

Das rbb-Fernsehen sendet um 20:15 Uhr die Dokumentation "Die Neue im Roten Rathaus"

rbb: Frau Giffey, Sie haben mitten in der Pandemie als Regierende Bürgermeisterin angefangen, dann brach ein Krieg in Europa aus, jetzt kommen zehntausende Geflüchtete und suchen Schutz. Haben Sie manchmal die Sorge, das dicke Ende kommt erst noch?

Franziska Giffey: Es ist völlig klar, dass wir am Anfang einer Entwicklung sind. Der Krieg wird wahrscheinlich nicht so schnell vorbei sein. Wenn er beendet werden sollte, wird es viele zerstörte Städte geben und Menschen, die sich weiterhin in Sicherheit bringen wollen. Deshalb wird die Bewegung der Flüchtlinge - die größte Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg - wahrscheinlich andauern.

Wir erleben auch eine große Hilfsbereitschaft von vielen Privatpersonen. Wir erleben, dass das Land Berlin in Rekordzeit Unterkünfte hochzieht. Dennoch werden irgendwann echte Wohnungen gebraucht. Müssen Sie bei Ihrer Chefinnen-Sache "Wohnungsneubau" eine Schippe drauflegen?

Erst einmal war für uns wichtig, die Erstversorgung und das Thema Registrierung und Verteilung hinzubekommen. Das läuft jetzt sehr gut, seitdem wir das Ukraine-Ankunftszentrum in Tegel haben. Wir gehen davon aus, dass noch viel mehr Menschen in der Stadt sind, die nach und nach um Registrierung und Aufenthalt hier vor Ort bitten.

Das heißt, dass diese Privatunterbringung, die bisher noch erfolgt, nicht von Dauer ist. Es braucht zusätzliche Wohnungen. Wir hatten ja am Anfang der Koalitionsverhandlungen die Diskussion, ob 20.000 Wohnungen im Jahr nicht zu viel sind. Aber jetzt müssen wir ganz klar sagen, dass wir diese Ziele, die wir uns gesetzt haben, brauchen werden.

Wie kann man sich das vorstellen? Hat Bausenator Andreas Geisel schon den Auftrag bekommen, bis Herbst 1.000 oder 2.000 Modulwohnungen fertig zu stellen?

Wenn im Bundestag und Bundesrat über die Baugesetzbuchänderung entschieden wird, die es ermöglicht, ohne langes Planungsrecht bauen zu können, werden wir unsere Pläne, die wir 2015/2016 schon mal für die Modulbauweise hatten, wieder auf den Tisch holen. Es sind damals 60 Vorhaben in der Planung gewesen; 27 sind realisiert worden. Das heißt, 33 sind noch offen, für die Mal Überlegungen angestellt worden sind.

Meiner Meinung nach müssen wir diese Modulbauweise realisieren. Wir können sie zunächst für die Unterbringung von Geflüchteten nutzen; perspektivisch sind das alles Wohnungen für Auszubildende oder Studierende. Wir brauchen diese Orte dringend. Und das muss jetzt auch vorangebracht werden.

Gleichzeitig beginnt eine Senatskommission mit ihrer Arbeit, wie man mit der Enteignung großer Immobilienkonzerne umgeht - also der Forderung des Volksentscheids. Es geht aber ausdrücklich auch darum, zu gucken, ob es wirtschaftlich umsetzbar beziehungsweise bezahlbar ist. Wäre jetzt nicht der Zeitpunkt zu sagen, wir können uns Enteignung überhaupt nicht mehr leisten?

Wir haben ja ganz bewusst die Entscheidung getroffen, eine Expertenkommission mit der Betrachtung all dieser Auswirkungen zu beauftragen. Klar ist, wenn man so einen Enteignungsweg geht, dann bedeutet es hohe Entschädigungssummen. Und es sind ja alles Wohnhäuser, in denen bereits Menschen leben. Also davon entsteht keine einzige neue Wohnung.

Aber die Entschädigungssummen liegen mit unterschiedlichen Schätzwerten bei bis zu 30 Milliarden Euro. Das ist so viel wie ein kompletter Berliner Landeshaushalt. Und die brauchen wir dringend für den Wohnungsbau, für die Unterbringung von Geflüchteten, für soziale Versorgung oder Infrastruktur.

Sie haben nicht nur diese Kommission zur Enteignungsfrage auf den Weg gebracht. Es gibt auch eine Senatskommission, die den Neubau anschieben soll. Eine andere Kommission soll dafür sorgen, dass das Thema Klimaschutz täglich in die Politik einfließt. Was macht Sie so zuversichtlich, dass das mehr wird als nur eine Redensart: 'Wenn ich mal nicht weiter weiß, gründe ich einen Arbeitskreis'?

Der Senatskommission für den Wohnungsneubau geht es vor allen Dingen um unsere insgesamt 192 Flaggschiff-Projekte. Und es gibt immer wieder Hindernisse und Hürden, ob das jetzt bei der Baugenehmigung ist oder bei der Frage wirtschaftlicher Interessen oder Umweltinteressen und so weiter.

Häufig sind solche großen Vorhaben auch deshalb gescheitert oder nicht vorangekommen, weil Entscheidungen nicht vorangebracht worden sind. Und dafür wird diese Senatskommission gegründet, dass sie konkret Probleme löst, Hindernisse aus dem Weg räumt und Bauvorhaben auch beschleunigt.

Jetzt stelle ich mir ganz praktisch eine freie, grüne Fläche vor. Dann kommt die Senatsbaukommission und sagt, auf jeden Fall klotzen. Dann kommt die Senatsklimakommission und sagt, können wir gar nicht machen, dürfen wir gar nicht zu pflastern. Wenn es hart auf hart kommt, wird dann doch der Umweltschutz geopfert?

Nein, es geht darum, die Interessen abzuwägen. Es kommt noch ein dritter Aspekt dazu, nämlich die Wirtschaft, die sagt, wir brauchen hier keinen Wohnraum, sondern wir brauchen dringend Gewerbe. Genau in diesem Streitfall stehen die Interessen häufig gegeneinander. Jeder sagt, was er alles nicht kann, will, befürwortet und so weiter.

Und genau für so einen Fall muss dann die Senatskommission zusammentreten. Und da kann es mal zugunsten des Gewerbes sein und mal zugunsten auch der Freifläche. Aber es wird auch zugunsten des Wohnungsbaus sein müssen. Denn wenn wir immer nur sagen, Wohnungsbau finden wir gut, aber bitte nicht bei mir vor der Haustür, dann werden wir das nicht hinbekommen.

In dieser aktuellen Situation, wo die Menschen aus der Ukraine nach Berlin kommen, merken wir, dass der öffentliche Dienst mal wieder am Limit ist. Sie haben extra einen Brief geschrieben. Es gibt viele Freiwillige, die helfen, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, die ins Ankunftszentrum in Tegel gehen. Dennoch Bittbriefe schreiben kann auf Dauer nicht die Lösung sein. Oder?

Das, was ich da gemacht habe, ist eine absolute Ausnahme. Ich gehe davon aus, dass man so etwas einmal in einer Legislatur macht, dass man die Kolleginnen und Kollegen aller Landesverwaltungen bittet, hier in einer Ausnahmesituation zu helfen.

Braucht es da nicht perspektivisch etwas, wie eine schnelle Verwaltungseingreiftruppe für das, was vielleicht kommen könnte, was wir uns noch gar nicht vorstellen können?

Nein, wir sind ja generell parallel dazu dabei, auch Personal einzustellen. Es ist jetzt nicht für die Dauer, dass man Leute aus anderen Bereichen für drei Wochen abzieht, sondern das ist eine Notsituation, eine Akutsituation, in der man reagiert mit den vorhandenen Kräften. Aber perspektivisch brauchen wir da eben einen entsprechenden Personalaufbau.

Schnelle Eingreiftruppe - das trifft auch ein bisschen oft den rot-grün-roten Senat in den ersten hundert Tagen zu. Da musste sehr viel gemacht werden, was keiner planen konnte. Das läuft aber oder trauern Sie noch so ein bisschen der Ampel und der FDP hinterher?

Ich bin grundsätzlich nicht jemand, der irgendetwas betrauert, sondern es gibt immer eine Situation, die ist, wie sie ist. Und es geht bei allem erstens darum, wenn man sich entschieden hat, dann auch zu einer Entscheidung zu stehen. Und es geht immer darum, auch aus schwierigen Situationen etwas zu machen. Wir haben jetzt mehrere schwere Situationen, die wir nicht planen konnten. Und wir haben auf der anderen Seite ja auch ein Programm.

Wir haben uns für die ersten hundert Tage ein 40-Punkte-Programm vorgenommen und mein Interesse ist es schon, dass wir das auch umsetzen. Und daran wurde auch gearbeitet. Und wir können sagen, dass wir nahezu 100 Prozent, also weit über 90 Prozent der Vorhaben auch geschafft haben. Das ist unter den Bedingungen von Krisenbewältigung nebenbei schon ein sehr gutes Ergebnis. Darüber freue ich mich auch, und das geht nur in gemeinsamer Anstrengung.

Denken Sie manchmal, wenn es knifflig wird, was würde Angela Merkel jetzt tun? Immerhin waren Sie bei ihr über drei Jahre Ministerin.

Ja, ich denke schon öfter mal an sie. Und sie hat ja diesen Ausspruch geprägt, wenn irgendetwas besser würde, wenn ich mich darüber aufrege, dann würde ich mich jetzt aufregen. Aber es wird ja nicht besser, sondern man muss die Sache ruhig angehen und mit einem gesunden Pragmatismus.

Wir haben jetzt unheimlich viel über Krise gesprochen. Notgedrungen. Was macht ein Regierende Bürgermeisterin, wenn sie abschalten will? Couch, Fernsehen und Chips?

Nein, Gartenarbeit und Fahrradfahren (lacht). Der Job ist ja mit sehr viel Sitzen verbunden, und ich freue mich immer, wenn ich mich bewegen kann, wenn ich spazieren gehen kann, wenn ich einfach ein bisschen draußen sein kann, quasi von langen Sitzungsmarathons, dann gleich wieder auf die Couch. Das ist nicht so meins. Ehrlich gesagt, ich hoffe, dass es wichtig ist, dass man das Gegenteil von dem macht, was man sonst so tut.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Franziska Giffey führte Jan Menzel, rbb-Landespolitik. Der Text ist eine gekürzte und redigierte Fassung. Das komplette Gespräch können Sie im Audio-Player nachhören.

Sendung: Inforadio, 29.03.2022, 10:45 Uhr

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