Kinder kämpfen wegen der Pandemie mit Übergewicht - Dick durch Corona
Home-Schooling, geschlossene Sportvereine, verrammelte Spielplätze: während der Pandemie haben viele vorher schlanke Kinder und Jugendliche an Gewicht zugelegt. Manche sogar in extremem Ausmaß. Und die Kilos bleiben. Von Sabine Priess
Wenn Jonah rennt, ist er jetzt schnell außer Atem. Der Elfjährige ist Stürmer in einer E-Jugend-Fußball-Mannschaft in Berlin und dafür bekannt, immer an der richtigen Stelle zu stehen. Oder vielmehr war er dafür bekannt, denn inzwischen schafft Jonah es nicht mehr so oft, schnell genug an der entsprechenden Stelle zu sein.
Sein Bauch hindert den an sich schlanken blonden Jungen. Den hat Jonah sich während der Corona-Zeit angefuttert. Er lässt ihn steif und mit durchgedrücktem Rücken laufen, langsamer rennen und macht ihn zur Zielscheibe für den Spott seiner Mitspieler. Die Eltern von Jonah hoffen, dass sich "das Bäuchlein" einfach wieder verwächst.
Das sei gar nicht so unwahrscheinlich, sagt der Berliner Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske. Denn insbesondere bei Kindern sei es im Gegensatz zu Jugendlichen ja so, dass sie noch wachsen würden. "Aber erstmal sind die Kilos da", sagt Maske.
Jonah spielt Fußball und chillt viel
Jonahs Eltern, die hier anonym bleiben wollen, sind Akademiker. Sie kennen sich mit gesunder Ernährung aus und leben sie auch vor. Doch während der Coronazeit und in den Lockdowns mussten sie beide viel arbeiten, in nicht systemrelevanten Berufen, während ihr Sohn zwischen Home-Schooling am Computer und Freizeitgestaltung vor der Spielkonsole wechselte. Zum leibhaftig miteinander spielen fand sich im Lockdown selten jemand – Jonah ist Einzelkind. Er isst gern Pasta, liebt Milchschokolade, snackt gern salzige Chips und chillt viel in der Horizontalen. Davon komme wohl der Bauch, raten die Eltern. Da hilft es wenig, dass sonst viel Gemüse und Obst gegessen wird in der Familie.
So wie Jonah geht es seit der Corona-Pandemie vielen Kindern und Jugendlichen. Denn es fielen über weite Strecken nicht nur der Schulweg, der Schulsport und der spontane Rundlauf um die Tischtennisplatte aus – auch die Sportvereine waren stellenweise länger dicht. Die Kinder saßen demnach zuhause, wo sie sein sollten, und bewegten sich deutlich weniger bis gar nicht. Gegessen und genascht wurde natürlich trotzdem.
Übergewicht bei Kindern, normalerweise (vor Corona) oft assoziiert mit genetischer Disposition oder geringem sozialen Status [aerztezeitung.de], tritt jetzt deutlich sichtbar in allen Bildungsschichten auf.
Schon vor der Pandemie viele übergewichtige Kinder
Bereits Anfang 2021 hatte der Berliner Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske im Berliner Tagesspiegel" [Bezahlinhalt] gar von "drastischen Fällen von Adipositas" berichtet. Zu der Zeit fand für Kinder und Jugendliche wenig statt. Der Lockdown war hart – auch sie durften sich draußen nur zur sportlichen Betätigung aufhalten - und es gab teilweise schlichtweg auch für die Vereine keine Möglichkeit mehr, Training anzubieten. Die Türen der Sportplätze waren fest verschlossen. Darüber kletternde Jugendliche wurden verjagt oder gar angezeigt. Spielplätze waren mit Bauzäunen abgeriegelt und wie nach einem Unfall mit Flatterband umgrenzt.
Als Spiel und Sport endlich wieder möglich waren, letzteres zuerst in kleinen festen Gruppeneinheiten und ausschließlich draußen, war vielen Eltern das Risiko einer Corona-Infektion samt Quarantäne ihrer ungeimpften Kinder zu hoch.
"Viele Kinder und Jugendliche haben, das zeigen ja auch inzwischen viele Studien, ist in dieser Pandemie-Zeit wahnsinnig an Gewicht zugenommen. Und da kommen nun natürlich auch noch die Folgeerkrankungen dazu", sagte Maske rbb|24 nun. Seine Aussage aus dem Vorjahr habe sich traurig bestätigt.
Wie ist es heute, Herr Maske?
In Deutschland gilt jedes fünfte Kind als übergewichtig oder extrem übergewichtig, also adipös. Das war vor der Pandemie. Die Verschärfung der Situation durch Corona lässt sich bundesweit gesehen auch an Zahlen, zumindest für das Jahr 2020, festmachen. Laut Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit [dak.de] stiegen die Krankenhausbehandlungen von Kindern mit der Diagnose Adipositas im Jahresvergleich um 60 Prozent an und blieben auf Rekordniveau.
Es geht um "extremste" Gewichtszunahmen
Die pädiatrische Endokrinologin Susanna Wiegand, die die Adipositas-Ambulanz für Kinder an der Berliner Charité leitet, sagte Ende Dezember 2021 dem Redaktionsnetzwerk Deutschland [rnd], es falle auf, dass jetzt viele Patienten, die zu ihr kämen, "wirklich extrem zugenommen haben". Sie spreche von Schulkindern, die 20 bis 30 Kilo mehr wiegen würden und Jugendliche mit "extremster Adipositas", die ihre Sprechstunde aufsuchten. "Das haben wir in dieser Ausprägung vor der Pandemie nicht in dieser Häufigkeit gesehen." Ob tatsächlich mehr Kinder betroffen seien, lasse sich, obwohl sie es annehme, nicht sicher belegen. Denn in Berlin fehlten wegen Corona beispielsweise von zwei Jahren die Schuleingangsuntersuchungen.
Für Brandenburg weiß man das genauer: Daten der Krankenkasse DAK belegen, dass es 2020 bei Kindern im Grundschulalter zwischen fünf und neun Jahren einen Anstieg der Adipositas-Neuerkrankungen um 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gegeben hat. Detlef Reichel, Landeschef des Berufsverbandes der Kinderärzte/Jugendmedizin, zeigte sich mit Blick auf die DAK-Daten sehr besorgt davon, in welchem Ausmaß psychische und psychosomatische Störungen bei Kindern und Jugendlichen 2020 zugenommen hätten. Er geht sogar davon aus, dass die Zahlen im Zuge der weiteren Pandemie noch gestiegen seien.
Oscar wollte sterben und hat Trost im Essen gefunden
Oscars Pulli sitzt straff am Bauch, auch wenn die Ärmel zu lang sind. Eigentlich war der Zehnjährige nie übergewichtig und bewegte sich gern, war im Schwimmverein und auf dem BMX unterwegs. Er fiel zwischen seinen schlanken Eltern und dem ebenso schlanken Bruder nicht auf. Doch mit Corona kam das Übergewicht. Sichtbar zugenommen während der Corona-Zeit hat Oscar gleich im ersten Lockdown. Denn mit der Isolation und der neuen, diffusen Gefahr brach Oscars Welt zusammen, er sprach davon sterben zu wollen und fand Trost im Essen.
Inzwischen geht es Oscar besser, doch die Kilos bleiben. Immer, wenn er nichts zu tun hat, geht er auch jetzt noch in die Küche und schmiert sich Brote. "Ungesunde Dinge oder Süßes haben wir schon lange nicht mehr im Haus", berichtet die Mutter, die ebenfalls anonym bleiben will. Zum Sport lässt sich Oscar nur noch selten animieren. Er hat Sorge, mit den anderen nicht mithalten zu können. Oscars Mutter ist ebenfalls besorgt. Sie hat Rat bei der Kinderärztin gesucht, die zur Verhaltenstherapie riet. Ein eher langfristiges Projekt, weil Therapieplätze rar sind und es lange Wartezeiten gibt. Nun ist sie unschlüssig, wie sie mit der Gewichtssituation des Kindes am besten weiter umgehen soll.
"Ich frage ich mich, ob wir überhaupt etwas machen müssen", sagt sie. Teil des Problems sei auch das vorherrschende Ideal von schlank und erfolgreich, und dass dicke Menschen stigmatisiert würden. Gleichzeitig wisse sie von erhöhter Diabetesgefahr oder Herz-Kreislauferkrankungen. "Oscars Essverhalten ist schon fast eine Art Suchtverhalten. Er geht nun heimlich zum Kiosk und kauft sich von seinem Taschengeld Süßkram", berichtet sie.
Sie findet, dass die Schulen die sozialen Folgen von Corona noch besser abfangen sollten. "Und ich wünsche mir mehr Sportangebote für unsportliche Kinder - die brauchen es doch am dringendsten", sagt sie.
Kinderarzt Maske sagt, dass es unter Umständen durchaus Sinn machen kann, dass übergewichtige Kinder mit anderen übergewichtigen Kindern gemeinsam Sport machen. Angebote hierfür gibt es aber auch laut Maske zu wenig. Derartige Maßnahmen sollten seiner Ansicht nach dringend gefördert werden von Bund und Ländern. Denn genau diese Kinder müssen tatsächlich sportlich gefördert werden. Dabei gehe es in der Regel, so Maske weiter, nicht darum, dass sie an Gewicht abnehmen. "Wir raten den meisten Eltern, darauf zu achten, dass ihre übergewichtigen Kinder nicht weiter zunehmen". Das reiche meistens aus, damit sie aus dem Übergewicht herauswachsen. Maske sieht aber auch, genau wie Oscars Mutter, dass das Vorgehen mit den Kindern vorsichtig besprochen werden sollte. Im Fokus sollte dabei stehen, dass es um die Gesundheit des Kindes gehe.
Viele kamen mit Übergewicht aus den Lockdowns oder gar nicht
Auch wenn regulärer Vereinssport für Kinder und Jugendliche schon länger wieder möglich ist, so unbeschwert und niedrigschwellig wie vor Corona ist die Situation noch lange nicht. Wer ins Schwimmbad möchte mit bewegungsbedürftigen Kindern oder in eine Trampolinhalle, der muss sich vorher online um ein freies Zeitfenster bemüht haben haben. Spontan geht das nicht. Außerdem gibt es noch immer – bei derzeit wieder steigenden Infektionszahlen – das Risiko einer Ansteckung – oder auch Zweitinfektion mit dem Coronavirus.
Auch für Fußballspieler Jonah fanden zwar aufgrund des Engagements seines Trainers Testspiele im Freien statt im Winter – und jetzt läuft - bei Wind, Regen und Hagel – auch die Liga wieder. Aber Hallenturniere oder ein Ausweichen in die Halle beim Training, wenn das Wetter gar zu schlecht ist, sind noch immer nicht möglich. Und irgendwie, sagt der Vater, sei Jonah die Selbstverständlichkeit, sich flink zu bewegen, abhanden gekommen.
Natürlich haben nicht nur Nachwuchsfußballer Probleme. So berichtete auch die Präsidentin des Karate-Verbandes Berlin, Kathrin Brachwitz, von vielen Kindern, die aufgehört hätten oder die mit motorischer Entwicklungsverzögerung oder Übergewicht aus dem Lockdown gekommen seien.
Rückkehr zur Normalität wird lange dauern
Inzwischen, das ergab eine Befragung von Kindern und Jugendlichen für die COPSY-Studie [uke.de] vom Spätsommer 2021, geht es vielen durch die Pandemie belasteten Kindern wieder etwas besser. Die meisten Kinder machten wieder mehr Sport und seien weniger online, hieß es. Die seelischen Belastungen der Kinder seien leicht zurückgegangen, hielten sich aber weiter auf hohem Niveau, heißt es dort.
Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte im September 2021 im Ärzteblatt [aerzteblatt.de], glaubt: "Diese Effekte werden uns noch nachhaltig beschäftigen. Es wird noch lange dauern, bis wir zu einer Normalität zurückkehren können."
Auch der Kinderarzt Jakob Maske geht davon aus, dass ihre zusätzlichen Kilos viele der betroffenen Kinder und Jugendliche noch mehrere Jahre bis Jahrzehnte beschäftigen werden. "Für manche der Kinder wird das auch ein bleibendes Problem werden", schließt er.
Auf Gesundheitssystem kommen riesige Belastungen zu
Schlussendlich ist Übergewicht ja auch nur die eine Seite der Medaille. Auch die Zahl junger Patienten mit starkem Untergewicht ist im Jahr 2020 laut DAK-Studie um 35 Prozent gestiegen. Essstörungen wie Magersucht und Bulimie nahmen um fast zehn Prozent zu. Deutliche Steigerungen gab es auch bei Diabetes- und Asthma-Erkrankungen sowie Infektionen.
Kaweh Niroomand, der Sprecher der Berliner Profivereine, zäumte das Pferd im Mai 2021 bei einer Anhörung im Sportausschuss des Abgeordnetenhauses von hinten auf. "Wir werden riesige Belastungen für die Gesundheitskosten haben", konstatierte er.