Interview | Auswirkungen der Corona-Krise - "Die psychischen Notfälle haben deutlich zugenommen"
Kinder und Jugendliche sind von den Corona-Einschränkungen besonders stark betroffen. Welche psychischen Erkrankungen zugenommen haben und warum diese sich in der Pandemie schwieriger behandeln lassen, erläutern ein Psychiater und eine Psychologin im Interview.
rbb|24: Herr Willner, mit welchen Patienten haben Sie es in Ihrer Klinik zu tun?
Hans Willner: Die Jüngsten sind etwa drei Jahre alt, die Ältesten 18. Ambulant arbeiten wir auch schon mit den Eltern von Säuglingen und Kleinkindern, zum Beispiel wenn die Kinder Regulationsprobleme beim Schlafen haben oder schwer zu beruhigen sind oder Fütterschwierigkeiten haben. Wir behandeln grundsätzlich alle Arten von psychischen Erkrankungen.
Welche sind das beispielsweise?
Willner: Bei den ganz Kleinen sind es oft komplizierte Entwicklungsfragestellungen, wenn Kinder extrem unruhig sind, sich schwer integrieren lassen, wo man noch gar nicht genau weiß, was sie so ausbrüten. Da sind auch oft die sozialen Umstände der Familie ausschlaggebend. Und im Kinderbereich liegen oft Störungen im Sozialverhalten vor, ADHS spielt eine große Rolle, auch Autismus. Ängste und depressive Probleme schälen sich langsam deutlicher heraus, auch Autismus. Und im Jugendbereich sehen wir die ganze Palette: Ängste, Depressionen, psychosomatische Beschwerden, Essstörungen, Traumastörungen. Auch Psychose-Erkrankungen, Suchterkrankungen, emotionale Instabilität.
Welche Auswirkungen sehen Sie durch Corona?
Willner: Da muss man ein wenig differenzieren. Bei den Kindern ist die Zahl der Notfälle, die zu uns kommen, in der letzten Zeit deutlich gestiegen. Da geht es vor allem um häusliche Eskalationen, wo also die Eltern akut nicht mehr mit den Problemen der Kinder zurechtkommen. Zudem ist die Behandlungsdauer länger geworden und auch die Re-Integration nach Hause ist schwieriger geworden als vor der Pandemie, weil die Eltern ja weiter vor allem alleine mit den Problemen zurechtkommen müssen. Denn das stabilisierende, schulische, außerfamiliäre Umfeld ist ja größtenteils weggefallen.
Woran liegt das, dass es zu Hause häufiger eskaliert? Haben die Eltern durch die Pandemie weniger eigene Kapazitäten, ihren Kindern zu helfen, weil sie selbst gestresster sind? Oder sind die Krankheitsbilder bei den Kindern ausgeprägter als sonst?
Willner: Wir vermuten, dass beides der Fall ist. Die Kinder, die wegen psychischer Erkrankungen oder Problemstellungen ins Krankenhaus kommen, die haben wirklich große Probleme, denn man versucht ja überwiegend schon, ambulant zu helfen. Jetzt hat man gerade eine häusliche Situation, wo Eltern oft selbst belastet sind durch die Pandemie, oder auch durch vorhergehende Problemstellungen. Viele der Kinder, mit denen wir zu tun haben, haben selbst psychisch erkrankte Eltern, zum Beispiel suchtkranke Eltern oder depressiv erkrankte Eltern. Viele unserer Patienten kommen auch von alleinerziehenden Eltern. Und diejenigen sind selber natürlich durch die Pandemie vermehrt belastet. Und so kumulieren dann diese Belastungen.
Und wie ist die Situation bei den Jugendlichen?
Willner: Die leiden vor allem sehr unter der sozialen Isolation. Teilweise sind sie sogar froh, dass sie in die Klinik kommen, weil sie endlich wieder mal mit anderen Jugendlichen zusammen sind. Aus demselben Grund sind auch die Entlassungen schwieriger. Und die Zahl der Wiederaufnahmen ist gestiegen.
Frau Kasper, Sie arbeiten als Psychologin auf der Station für psychosomatische Erkrankungen. Inwiefern erschwert Ihnen die Pandemie die Behandlung?
Anika Kasper: Ein Großteil der Jugendlichen bei uns auf der Station ist zwischen 14 und 16 Jahren alt, viele haben es schon längere Zeit nicht mehr gut in die Schule geschafft, meistens aufgrund von Ängsten oder depressiven Erkrankungen, die oft mit körperlichen Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen einhergehen. Diese Schuldistanz war auch schon vor Corona eines der größten Probleme. Aber jetzt ist die Rückkehr in den Alltag deutlich schwerer geworden.
Warum?
Kasper: Zum Ende der Behandlung wollen wir die Jugendlichen langsam in ihren gewohnten Strukturen üben lassen, was sie bei uns auf der Station gelernt haben, wie sie also mit ihren Beschwerden, mit ihren Ängsten umgehen. Wir begleiten sie etwa bei der schrittweisen Rückkehr in die Schule. Erst nur wenige Unterrichtsstunden, dann immer mehr, bis volle Tage möglich sind. Und normalerweise würden wir auch schauen, welche Freizeitgestaltung und welche sozialen Aktivitäten möglich sind. Und all das geht und gibt es jetzt wegen Corona gerade nicht.
Welche Rolle spielt Corona in den Gesprächen mit den Jugendlichen? Wie groß sind die Sorgen und Ängste?
Kasper: Die Pandemie ist für die meisten ein großer Einschnitt, aber Corona an sich ist nicht das zentrale Thema in der Therapie, sondern da geht es um das, was eigentlich den jeweiligen Patienten beschäftigt, also etwa die Angststörung oder die depressive Erkrankung. Und dann kann man immer nochmal schauen, welche Auswirkungen hatte jetzt konkret Corona auf diese Problematik.
Was Sorgen rund um Corona angeht, geht es bei vielen Jugendlichen weniger darum, sie selbst oder ein Familienmitglied könnten erkranken, sondern mehr darum: Was bedeutet die Pandemie auch mit Blick auf meine schulische Perspektive? Werde ich einen Ausbildungsplatz finden? Die Jugendlichen setzen sich also eher mit den Auswirkungen auseinander. Und da entstehen natürlich Zukunftsängste. Mir ist aber bisher kein jugendlicher Patient bekannt, bei dem Corona das zentrale Problem war und wo sich besonders viele Angstgedanken oder Sorgen allein um die Krankheit entwickelt hätten.
Die Pandemie als solche macht also nicht allein krank, sondern verschärft bereits vorhandene Probleme.
Willner: Man muss da unterscheiden zwischen "belastet sein" und "erkrankt sein". Im Krankenhaus haben wir es natürlich - und das hat sich auch durch die Corona-Pandemie nicht verändert - prinzipiell mit den Erkrankten, und zwar mit den erheblich Erkrankten zu tun, sodass deren Grunderkrankung immer im Vordergrund steht. Aber die Pandemie hat vieles verstärkt. Und da treten tatsächlich psychosomatische Beschwerden verstärkt auf, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Ängste, depressive Verstimmungen. Das kommt also noch zur ohnehin vorhandenen Problematik dazu.
Sehen Sie bestimmte Erkrankungen derzeit häufiger als vor Corona?
Willner: Was tatsächlich deutlich zugenommen hat, sind Essstörungen, also Magersucht und Bulimie. Diese Jugendlichen berichten, dass die Pandemie und deren Umstände sie dazu gebracht haben, möglicherweise schneller oder verstärkt mit so einer Erkrankung zu reagieren. Das sind ja überwiegend weibliche Jugendliche und deren Hauptmerkmal ist oft, dass sie sehr leistungsbezogen sind, sich sehr mit anderen vergleichen. Jetzt würde man vielleicht denken, dass die in der häuslichen Situation weniger belastet sind. Aber erstaunlicherweise ist das nicht der Fall. Anscheinend profitieren auch diese Jugendlichen sonst doch vom psychosozialen Umfeld der Schule. Das fällt weg. Und jetzt, mit sich allein gelassen, schaffen sie es gar nicht mehr.
Wie reagieren Sie bei den Behandlungen darauf, dass genau die Dinge, von denen Ihre Patienten außerhalb der Klinik normalerweise profitieren würden – Schule, Freizeitmöglichkeiten, soziales Umfeld – gerade so eingeschränkt sind?
Kasper: Wir versuchen, wenn wir unsere Patienten entlassen, sie trotz allem in einen Alltag zu integrieren, für Struktur zu sorgen. Das ist auch etwas, was uns die Jugendlichen auf unserer Station rückmelden, dass ihnen das strukturierte Setting bei uns in der Klinik sehr gut tut, dass sie von einer klaren Tagesstruktur mit Aufgaben, mit Aktivität und Beschäftigung profitieren. Wir versuchen, so etwas mit ihnen gemeinsam für ihren Alltag zu Hause aufzubauen, schauen also gemeinsam mit dem oder der Jugendlichen: Wie kannst du deine Schulzeit strukturieren? Wie kannst du dir Sachen vornehmen, die dir Freude machen unter diesen Einschränkungen? Also was gibt es für Dinge, die trotz Corona-Einschränkungen noch möglich sind? Und wir bestärken auch die Eltern darin, eine solche Regelmäßigkeit aufrechtzuerhalten im Alltag.
Wie kann das konkret aussehen?
Kasper: Das fängt an beim regelmäßigen Aufstehen, sich für den Tag fertig machen und dann zum Beispiel dann mit den Schulsachen zu beschäftigen, Pausen einzubauen, die Handyzeiten so ein bisschen zu steuern. Weil das alles Dinge sind, das sehen wir bei uns auf der Station, doch auch schnell aus dem Ruder laufen, wenn keine von außen vorgegebene Struktur da ist, wie sonst durch Schule und Freizeitbeschäftigungen. Die Handynutzung oder auch die Mediennutzung ist natürlich insgesamt deutlich gestiegen. Einerseits zwangsläufig dadurch, dass viele Kontakte jetzt nur noch über Chats oder Telefon stattfinden. Aber auch dadurch, dass es zum Teil die einzige Beschäftigung ist, geht es dann bis in die Nacht und so geht schnell auch mal ein Rhythmus verloren.
Was würden Sie sich generell für Ihre Patienten wünschen, mit Blick auf die Pandemie und unseren Umgang damit?
Kasper: Für meine Patienten wäre ein verlässliches schulisches Setting wünschenswert, wie auch immer das dann aussieht. Im Moment ist es ja sehr geprägt von Unsicherheit, viele wissen gar nicht so genau, was macht die Schule jetzt als nächstes? Also bis wann bleiben wir jetzt im Distanzunterricht, kommt dann als nächstes Wechselunterricht? Wie wird das Homeschooling gestaltet? Das ist ja auch von Schule zu Schule unterschiedlich. Und ich könnte mir vorstellen, dass das für die Jugendlichen einfach ein größeres Maß an Sicherheit wäre, wenn das verlässlich ist. Wenn klar ist, über einen gewissen Zeitraum wird das jetzt so und so gehandhabt. Und wenn ich mir was wünschen dürfte, dann wäre das immer wieder auch mit regelmäßigen Präsenzzeiten, um die Jugendlichen auch zu sehen. Damit sie auch den Kontakt zu den Lehrern und Mitschülern haben können.
Willner: Es wäre extrem wünschenswert, dass man mit dem Impfen vorankommt, sodass man aus diesen akuten Beschränkungen, die die Pandemie mit sich bringt, auch was Kinder und Jugendliche betrifft, dass man da so schnell wie möglich herauskommt. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Psychische Erkrankungen lassen sich unter solchen Bedingungen einfach deutlich weniger gut behandeln.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sarah Mühlberger, rbb|24.